Heute bleiben wir in den TIROLER ALPEN.
Von Mayerhofen, dem wohl bekanntesten Ort im Zillertal, geht es in Richtung Süden bis knapp vor Ginzling, also dorten, wo eine Brücke über den Zemmbach führt. Da fletscht nicht der spitzeste Zahn der Zillertaler Alpen in den Himmel hinauf, sondern thront die Vordere Grinbergspitze in beachtlicher Höhe über dem Zemmgrund. Genau da liegt, flankiert von steilen Bergmädern, der Gasthof Karlsteg. Er ist der Ausgangspunkt oder Endpunkt für manche Bergtour. Und die Familie Moser bewirtet seit nun fast einhundert Jahren die hungrigen Einkehrer mit Tiroler Wirtshauskost. Das Gasthaus ist bei den Einheimischen genauso beliebt wie bei den vielen Fremden, die hier ihren Urlaub verbringen. Und es waren Fremde, nein Gäste, der feine Unterschied wird extra betont, die vom kulinarischen Flair des Gasthauses so beeindruckt waren, dass sie vorschlugen, das, was in diesem Haus gekocht wird, einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Sprich: Ein Kochbuch muss her! Elisabeth Prein, Elli genannt, ist nicht nur die Ideengeberin und Geburtshelferin dieses Kochbuchprojekts – nein, sie holte auch Kathi, die Fotografin wie auch Katharina, die Texterin, ins Boot. Die ‚deitschen’ Gäste mussten die Mosers nicht betteln, die fanden die Idee prima, wenn sie auch anfangs etwas zurückhaltend waren. Das Gasthaus in den Tiroler Alpen, so der Titel, ist im Brandstätter Verlag erschienen. Es ist also wie vielfach oft, dass jemand von außen kommen muss, um den Schleier von der – in diesem Fall – Restauration Karlsteg zu ziehen. Der Wirt und seine Tochter öffneten die Tür zu ihrer Küche, gewährten vorbehaltlos dem Frauen-Triumvirat einen Einblick, der tiefer geht als eine vordergründige Postkartenidylle. Frei nach dem Credo: „Willst du das Leben am Land verstehen, dann musst du ins Gasthaus gehen.“ Franziska und Josef Moser tüfteln seit Jahren an traditionellen und neuen Rezepturen, immer im Einklang mit dem saisonal zur Verfügung Stehendem. Deshalb ist ihr Kochbuch auch eine Zeitreise durchs Jahr. Mit dabei sind regionale Produzenten, die die Gastwirtschaft mit Gemüse, Obst, Wild, Fleisch, Fisch, Käse und Getreide beliefern.
Zurück zum Anfang, da heißt es: Es wird Frühling, was im Zillertal mit dem rauen Klima oft dauern kann, da der Schnee manchmal bis in den Mai die Landschaft zudeckt wie eine weiße Leinwand. Aber dann ist der Neubeginn nicht mehr aufzuhalten, kommt Leben in die Natur … Das ist die Zeit des Bärlauchs, des Rhabarbers, der Maiwipferln und der Innereien. Diese gehören ins erste Kapitel, wie eine Frühlingsgeschichte, die wiederum dem Hannes Posch zusteht. Der ist Gemüsebauer in Thaur bei Innsbruck. Sein Hof ist zwar nicht biozertifiziert, weil das funktioniert mit Sorten wie Karfiol in diesen alpinen Breiten nicht, aber dafür werden statt Pestizide Kulturschutznetze, Mulchfolien und Nützlinge verwendet. Seine Produkte, und das gilt auch für die anderen Zulieferer, stehen für Nachhaltigkeit und Qualität. Das ist jetzt für uns nicht vorrangig, aber wir beherzigen das und kaufen unsere Produkte, die wir zum Nachkochen benötigen, direkt vom Bauern oder am Markt ein.
Der frühlingshafte Rezeptereigen wird mit Gemüseklassikern eröffnet, die zu einfachen Salaten verarbeitet werden. Eine klare Wirtshausansage, denn es gibt kaum eine Essensbestellung ohne Salate. Im Aufbau sehr einfach, sind sie reduziert auf das Notwendigste, nämlich Gemüse plus Essig und Öl, den obligatorischen Würzen Salz, Pfeffer und gelegentlich noch eine Prise Zucker. Eine Spur Süße finden sich im Karottensalat wie auch dem Grünen- und Gurkensalat. Warum nur bei diesen und den anderen nicht eine Prise Zucker zugefügt wird, hätte ich gerne den Koch gefragt.
Der Sprung von den Salaten zum Fleisch ist groß, aber alles hat seinen Wert und so auch die Innereien. Kalbsbeuschel, Leberknödel, Milzschnitten sind Teil der traditionellen österreichischen Küche, die nicht mit den inneren Reizen geizt, wie es Katharina formuliert. Das Kalbsbeuschel war bis vor wenigen Jahren noch ein Standardessen auf Tirols Tischen. Heute bekommt man Innereien nur in ausgewiesen guten Gaststuben. Denn Beuschel kochen ist eine aufwendige Angelegenheit und es muss fein geschnitten sein, ein Trick, den Josef von seiner Mutter abgeschaut hat. Gekrönt wird das Beuschel mit Julienne geschnittenen Karotten und Lauch. Auch das Geschmorte Kalbsbackerl sowie die Zunge werden von reschem Wurzelgemüse begleitet. Die Backerln haben sich laut Josef erst in letzter Zeit wieder auf die österreichischen Speisekarten geschlichen. Sein Rezept ist sehr puristisch, einfach aber starrköpfig gut. Kennerinnen und Kenner von gekochtem Gekröse dürfen sich freuen auf das klare Bekenntnis für Gebackenes Bries, Saure Nieren, Ofenleber und Schweinebraten. Die Beilage, ein Klecks Kartoffelpüree, fällt etwas dünn aus. Mit wenig eingerührter Butter, ist das Mosersche genau das Gegenteil des Robuchon Pürees. Aber immerhin wird hier Omas Geheimnis preisgegeben, nämlich ins Püree einen Schuss Rahm hineinzurühren.
Dass es im Frühling nicht immer nur deftig zugehen muss, zeigen die nächsten Rezepte. Da blickt die Jahreszeit liebevoll, fast zärtlich auf die Hollunderblüten, die herausgebacken schon eine feine Delikatesse sind. Wie auch die ersten Rhabarberstengel, die zu Kompott, Limo und Rhabarberkuchen verarbeitet, uns zu einem Frühlingslächeln verführen.
Die Sonne lockt nach einem Weilchen
die schönsten Dinge an das Licht,
zum Beispiel: Maiwipferlgrün und Veilchen, …*
hätte wohl Erich Kästner gedichtet, hätte er, der 1945 nach Mayerhofen geflüchtet war, dem Gasthof Karlsteg einen Besuch abgestattet. Denn die Mosers machen lange schon aus den Maiwipferln einen Sirup, der schleimlösend, antibakteriell und beruhigend wirken soll. Der Maiwipferlsirup von der Tanne wie auch Fichte schmeckt, mit braunem Zucker angemacht, leicht karamellig. Während Franzi mit dem Zirbenzapfensirup noch eins drauf legt. Die gehackten Maiwipferl aus dem Sirup kommen zusammen mit Schokolade in die Maiwipferlpralinen. Die nehmen die Karlsteger vorbeugend gegen Husten.
Die Brücke zum Sommer schlägt der Kärntner Reindling. Er löst Gefühle aus, die wir verstehen können, hat doch Gerti Moser ihrem Josef den gugelhupfigen Klassiker aus ihrer Heimat mitgebracht.
Das zweite Kapitel also lässt Sommergefühle aufkommen. Es wird rundherum bunter und die Karte mit neuen Schmankerln weiter. Nun bringt frisch geschossenes Wild Abwechslung in die Küche, auch wenn man Gamsfleisch nicht überall bekommen wird.
Vor Kurzem erstand ich einen Rehrücken, den ich zusammen mit Rotkraut und Schupfnudeln meinen hungrigen Freunden servierte. Sie waren voll des Lobes für das schlichte Rehfleisch nach Josefs Rezept. Nicht dazu gab es die sonst obligatorische Preiselbeermarmelade, denn die wird für die Preiselbeer-Sahne-Torte benötigt. Ein Nachschlag mit viel Sahne – wem das zu üppig ist, der versuche doch die Moosbeernocken. Die Nocken schauen zwar immer irgendwie ‚schiach’ aus, ein hässlicher Batzen, würde man meinen auf den ersten Blick. Aber das ist alles nur Tarnung, denn schon nach dem ersten Bissen kann man nicht mehr genug davon bekommen. Mit Vanilleeis und Karamellsauce serviert, sind die Nocken unwiderstehlich.
Wenn die Preiselbeeren vom anfänglichen Grün ins schönste Rot wechseln, dann beginnt der Spätsommer. Milchprodukte wie Rahm, Butter und Topfen sind gefragt für sommerliche Süßspeisen. Ohne Quark kein Topfenteig für die Zetschkenknödel für das Topfeneis. Brigitte und Thomas sind Quereinsteiger, hatten zunächst den Lengauhof in Ginzling nur gepachtet. Sie arbeiten streng biodynamisch nach Demeter-Regeln – ihre Milchprodukte sind gefragt im ganzen Tal. Jetzt gehört ihnen der Hof. Das und welchen gesellschaftlichen Herausforderungen sie sich stellen müssen, erfährt man in einem der zahlreichen Beiträge, die uns den Blick über den Tellerrand gewähren. Es ist ein Geben und Nehmen, das den Alltag der Familie Moser als Wirtsleute bestimmt, deshalb werden auch peu à peu die Produzenten vorgestellt, überwiegend Männer, mit Foto, bei der Arbeit. Nur Caroline, die von der klappernden Mühle am rauschenden Bach, die sieht man nicht. Das mag Zufall sein und lassen wir einfach so stehen.
Denn jetzt eilen wir zum dritten Kapitel, das überschriftet wird mit: Es herbstelt im Tal. Ein alljährliches Spektakel in dieser Zeit ist der Almabtrieb, der mit laut schellendem Geläut die Hirten und Zuschauer gleichermaßen beglückt. Oder sind es die vielen Schlücke Schnaps oder der traditionelle Zwiebelrostbraten vom Karlsteg? Jedenfalls wird jetzt aus dem Vollen geschöpft. Fische, Pilze und Obst dominieren die Tafel. Ein halbes Dutzend Fischrezepte lässt die Omega-3-Fettsäuren-Verteidiger jubilieren und jene, die es nicht so fischig mögen, können ausweichen auf Ziegenfrischkäsetascherl oder Semmelknödel mit Pfifferlingen. Auch dem Allrounder Apfel wird gehuldigt und das Apfelmus samt Schale zu machen künftig beherzigt.
Wenn die letzten Äpfel geerntet sind, weit im Dezember, und der Mehlverbrauch sprunghaft steigt, dann sind wir in der vierten Jahreszeit und dem Kapitel Zeit für Schnee. Zwar ist der Zillertaler Suppentopf immer da, aber im Winter rückt er in den Mittelpunkt, wirkt bestimmend auf Fonds und Einlagen in all seinen Erscheinungsformen. Da fahren Frittaten und Co. zur Höchstform auf, werden zusammen in einem Schaubild eindrucksvoll präsentiert. Entdeckt habe ich eine neue Zubereitungsform der Grießnockerl und war überrascht, wie gut das funktioniert. Nämlich Eiswürfel auf die Nocken im Wasser zu geben und zugedeckt noch einmal aufköcheln lassen. Die Grießnockerln waren die hellste Freude. Auch die Pressknödel, aber ohne Suppe, musste ich ausprobieren und servierte sie gleich unserer Freundin Astrid, die zu Besuch war und mit sportlichem Eifer einen platten Knödel nach dem anderen vertilgte, mehr als sie eigentlich wollte. Kochtechnisch erstaunte mich, dass das Knödelbrot, ohne groß einzuweichen, sich so gut in der Knödelmasse auflöste.
Natürlich gibt es noch mehr Zillertaler Schmankerln wie die Graukasrahmsuppe oder die Schlichternudeln, wobei man die Weisheit des Wirts hier berücksichtigen soll: Entweder des mog ana oder nit. Alle jedoch mögen Kekse, oder? Vom Husarenkrapfen, der doch mehr ein Krapfel ist, bis zum Vanillekipferl, am Ende wird überschaubare, glückseligmachende Weihnachtsbäckerei aufgetischt. Mit einigen Extras wie den Macarons samt Ganache, ob schokoladig oder himbeerig.
Das Gasthaus in den Tiroler Alpen weicht ab, nicht viel aber doch erkennbar, von den üblichen Büchern zur alpinen Küche. So fehlt hier, was eigentlich in keinem Tiroler Kochbuch fehlt, der Kaiserschmarrn, aber das ist gut so. Dafür finden sich andere interessante Rezepturen – bspw. Zelten, Bandnudeln mit Pfifferlingen und Bergkäse oder Vogelbeerenmarmelade – die ein alpines Heimatgefühl vermitteln. Weil das Zillertal und all seine Bewohnerinnen und Bewohner eng miteinander verwoben sind, behauptet Josef Moser. Gleichwohl hervorragend fotografiert und feinfühlig beschrieben werden neben den Wirtsleuten auch die Produzenten samt Adressen, die das Beste vom Besten aus Berg und Tal liefern. Ein Genuss zum Lesen sind auch die Vorspanne zu den Rezepten. Es sind Rezepte, die den Menschen Raum für Genuss und Zusammensein geben. Wenn Karlsteg ein eigener Kosmos ist, so ist das Kochbuch Das Gasthaus in den Tiroler Alpen, die Handreichung, diesen kulinarisch zu erfassen.
Die Sonne lockt nach einem Weilchen
* Frühlingslächeln (Erich Kästner)
die schönsten Dinge an das Licht,
zum Beispiel: Birkengrün und Veilchen,
und Reiselust und Liederzeilchen,
und manches lächelnde Gesicht.