Heute reisen wir nach SÜDFRANKREICH.
Auf den Spuren zweier Musketiere von der Waterkant, die mit einem LKW voll bepackt mit 17 qm Requisiten über die Alpen schaukelten, das liegt allerdings einige Jahre bereits zurück. Nach Mougins nahe bei Nizza ging die Fahrt, halt machen sie an einem einsturzgefährdeten italienischen Palazzo mit Stromanschluss mitten in einem Lavendelfeld. Mit im Gepäck zwei Kochplatten, ein Tapeziertisch, Fantasie, Glück und ihr unerschütterlicher Wille, alles Erlebte für ein Kochbuch aufzubereiten. Die Deutschen Stephan Hippe und Boris Krivec, zwei Quereinsteiger in die Gastronomie, lieben sich und die provencale Küche. Hippe wurde bereits von seinem Opa mit dem francophilen Virus angesteckt. Seine Schauspielerei ist kein einträgliches Brotgeschäft, und so sattelt er um zum Koch. Ein Praktikum bei Nicolas und Jany Polverino, im legendären südfranzösischen Restaurant Le Fournil, ist für ihn wegbestimmend. Freund Boris gibt seine gut gehende Anwaltskanzlei auf und zusammen eröffnen sie die Brasserie La Provence, die mittlerweile einige Male zum besten Franzosen Hamburgs gekürt wurde. Viele Geschichten, vor allem Lebensgeschichten, gibt es, die erzählt werden müssen. Ohne sie gäbe es La grand bordel nicht, ein ganz besonderes Kochbuch, das im Becker Joest Volk Verlag erschienen ist.
Hier betritt nun Judith Stoletzky die Küche bzw. Schreibbühne. Sie verbindet in einer Art märchenhafter Novelle Lebensschicksale, die, über einen Zeitraum von mehr als einhundert Jahren miteinander verwoben, sich immer auf den Esstisch fokussieren. Da ist Nicolas Großmutter, die ihren zwei Töchtern Inès und Jeanne das Kochen beibringt. Inès wird Haushälterin bei Picasso, 37 Jahre lang, bis zu seinem Tod, bekocht sie ihn. Es gibt wohl auch einige kubistische Bilder mit ihrem Konterfei. Jeanne, die Mutter von Nicolas, kocht für Dior. Nicolas Polverino lernt Tontechnik, arbeitet beim Film, später dann als Klempner und macht mit 42 Jahren noch eine Kochausbildung. Jany lässt sich wegen Nicolas scheiden und soll über viele Jahre die Gäste des Le Fournil mit ihren Liedern verzaubern. Wer einmal den betörenden Reiz einer Chansonette, die an den Tischen Liederwünsche erfüllt, erlebt hat, kann sich vorstellen, wie Jany auf die Restaurantbesucher wirken musste.
Tonangebend in dieser Geschichte aber bleibt Nicolas und sein bewegtes Leben. Vielen Menschen ist er begegnet. Künstlern, Dandys und Mafiosi. Guiseppe, ein Cousin und Verbrecher, soll bis zu seiner Verhaftung 2011 angeblich alle Rezepte aus Artusis, „La szienzia in cucina e l’arte di mangiar bene“ nachgekocht haben. Wolfram Siebeck fiel im Restaurant Le Fournil unangenehm auf und flog raus. Anthèlme Brillat-Savarin, den Verfasser von „Die Physiologie des Geschmacks oder Betrachtungen über das höhere Tafelvergnügen“ jedoch verehrt Nicolas. Wie auch Hippe und Krivec diesen berühmten Gastrosophen hoch schätzen. Denn am Ende eines kompletten Menü ist Käse – das gilt für alle drei – ein Muss. Wie sagte bereits Brillat-Savarin? „Ein Dessert ohne Käse gleicht einer einäugigen Schönen.“ Hier schließt sich auch der Kreis zwischen den Restaurants in Hamburg Ottensen und in der südfranzösischen Cotes de Provence. Rund 40 Sitzplätze, hoher Anteil an Stammgästen und natürlich provenzalische Esskultur. Handverlesene Weine, Pastis, hausgemachter Bitterorangenlikör sowie klassische Drei-Gänge Gerichte und Essen a la carte. Ob es immer noch montags Lasagne au four gibt, dienstags sautiertes Kaninchen mit Rosmarin, mittwochs légumes farcis und Salat, donnerstags und freitags bourride provencale, nun, ob es das immer noch gibt, weiß ich nicht. Das ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass der zweite Abschnitt von La grand bordel 70 Rezepte enthält. Feinheiten, die die kulinarische Lebensfreude der Provence spiegeln. Nationalgerichte wie das Gefüllte Nizza-Gemüse, das vergleichbar mit dem gefüllten Paprika bei uns ist, nur raffinierter. Von den Tartes habe ich die Tarte mit Ziegenfrischkäse und Ratatouille-Marmelade nachgekocht. Selten habe ich so zufriedene Freunde gesehen wie nach diesem Abendessen. Etwas irritierend ist, dass der Tarte-Mürbteig leicht gesalzen wird, da m.W. der Tarteteig geschmacksneutral zubereitet wird. Aber das ist auch nicht so wichtig, denn was zählt, ist der Geschmack guten Essens. Und mit der Ratatoulle-Marmelade bekommt die Ziegenkäsetarte noch eine besondere Geschmacksnote. Die wunderbare Ratatouille-Marmelade, eine Art Gemü seragout, kann auch als Brotaufstrich, zum Käse oder zum Aromatisieren verschiedener Cremes verwendet werden. Luftdicht verschlossen, hält sie sich sogar mehrere Wochen im Kühlschrank. Und weil sie so gut und vielseitig ist, verrate ich Ihnen am Schluss das Rezept.
Eine wunderbare Vorspeise, aber auch als Hauptgericht geeignet, ist die Karottensuppe mit gebratenen Scampi. Stephan Hippes Vorgangsweise kürzte ich leicht ab, der nach dem Pürieren mit dem Mixstab die Suppe noch durch die „flotte Lotte“ treibt. Ein mehrminütiges Pürieren genügt völlig, um eine feine, sämige Suppe zu erhalten.
Von den Desserts habe ich die Mandelcreme mit confierten Blaubeeren den Freunden der Literaturrunde vorgesetzt. Erstaunlich schnell verstummte die Diskussion und machte angenehmen Schmatzgeräuschen Platz. Das sagt doch alles. Eine andere Nachspeise, die Kalte Hundeschnauze auf provenzalisch habe ich nur durchgelesen, zuviel Schokolade für mich, aber der Humor gefällt mir, denn das Provenzalische reduziert sich auf einen Teelöffel Thymian.
Es finden sich neben den südfranzösischen auch italienisch angehauchte Rezepte. Etwa der Seewolf auf Kürbis-Waldpilz-Carbonara. Ein Gericht, das auch einen anderen Fisch verträgt und zu etwas Besonderem wird wegen seiner klassischen Sauce, die mit Fischfond angereichert ist.
Unzählig sind die Rezepte, die es gilt, noch auszuprobieren und zu vergleichen. Bspw. die Provenzalische Bourride, ein Fischsuppenklassiker, oder den marinierten Ziegenkäse. Alle Rezepte sind schön abgelichtet und tauchen teilweise als Detail in den Fotos auf, die die stehengebliebene Zeit in der Provence zeigen. Im Kapitel „Pablo hat Kohldampf“ wird der marinierte Ziegenkäse in Tonschalen auf orangem Teller à la Picasso serviert, ein Detail, das im Bild vom Arbeitstisch des Künstlers vorhanden ist. Überhaupt zeigen diese Inszenierungen, Stillleben, teils mit und teils ohne Personen, höchste fotografische Kunstfertigkeit. Manchmal etwas dunkel gehalten, sind es Dokumente des Genusses in einem Ambiente von Verfall, Lebensfreude und Natur, manchmal sogar alles gleichzeitig. Le grand bordel ist ein beindruckender Prachtband, witzig und sehr klug geschrieben, mit vielen tollen, provenzalisch angehauchten Rezepten – ein Kochbuch für Genießer.