Lucio Galletto, David Dale, Entlang der Küste

Die Küche des Mittelmeeres

Italien, Frankreich & Spanien
Fotografien von Bree Hutchins
Übersetzung aus dem Englischen von Marianne Harms-Nicolai und Barbara Holle
Sieveking Verlag, München, 2018, 288 Seiten, 37.-- Euro
ISBN 978-3-944874-79-1
Vorgekostet

Heute reisen wir ans MITTELMEER

Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert war für Maler, Denker, Literaten wie Goethe oder Delacroix, Byron oder Nietzsche die Mittelmeerreise ihr höchstes Ziel. Sie suchten das mediterrane Lebensgefühl. Eine fröhliche, orgiastische, menschliche und phantasievolle Farbgebung, die vor allem Picasso, Miró und Dali zur Kunst erhoben.

Vincent van Gogh schrieb über die Natur dieses südlichen Landes an seine Schwester Wilhelmina: „Die Palette sieht nun ganz bunt aus, himmelblau,  orange,  rosa,  rötlich,  hellgrün

…“ Bilder von van Goghs letzter Schaffensperiode sind durchflutet von Licht und Farbe. In seinem Bild ‚Olivenhain bei Montmajour‘ fängt der Maler ein, was der mallorquinische Dichter Pons i Gallarza so beschrieb:

Jo moriré, i encara …
Ich werde sterben, und noch immer / Wird der Mistral deine schwarzen Oliven schütteln:
Ich werde sterben, und noch immer / Wird der Mistral deine schwarzen Oliven schütteln:
/ Nichts wird sein, von dem was heute ist, /
doch du, auf der blauen Klippe, wirst leben.

Oliven, diese unscheinbaren grünen, blauen, schwarzen kleine Früchte, waren für den Amerikaner Waverley Root der Anstoß, Europa neu zu definieren. Er hob die nationalen Grenzen auf und teilte den Kontinent in Zonen der bevorzugten Essens-Zutaten ein. Es entstanden Reiche der Butter, des Specks und des Olivenöls. Letzterem werden Südfrankreich, Teile Spaniens, Italien und Griechenland zugeordnet. Von Roots Idee dieser regionalen Küchen-Einteilung Europas begeistert ist David Dale, ein australischer Autor, der sich vorwiegend den Themen Reisen, Kochen und Anthropologie widmet. David greift diesen Gedanken auf, die verschiedenen Landesküchen im westlichen Mittelmeerraum in einem Buch zusammenzufassen. Sie sind – ist er überzeugt – eigentlich die Zweige ein und desselben Olivenbaums, der vor 2600 Jahren von den Griechen gepflanzt und von Römern und Arabern gedüngt wurde. Und die Antwort, wie diese Küchen zusammenhängen, kann nur vor Ort gefunden werden, bei den Katalonen, den Provencalen und Liguriern. Deshalb bereiste er zusammen mit seinem Koch-Freund Lucio Galletto den nordwestlichen Abschnitt der Mittelmeeres, vom spanischen Valencia bis an die Grenze zwischen Ligurien und der Toskana in Italien. Immer der Küste entlang eine Tour, die etwa 1.500 Kilometer lang ist. Aus ihren Eindrücken und kulinarischen Erfahrungen der Reise durch die Küchen des Mittelmeeres von Italien, Frankreich & Spanien entstand das Kochbuch Entlang der Küste.

Der dreibeinige Kochtopf, den die alten Griechen kakavi nannten, ist nach Dale das Bindeglied der kulinarischen Kolonisierung des westlichen Mittelmeeres. Mit ihm kochten die griechischen Seeleute, wenn sie an den Küsten Liguriens, Kataloniens oder der Provence an Land gingen, um Handel zu betreiben, ihre Psarosoupa oder auch kakavia genannte Fischsuppe. Daraus wurde dann später die italienische Zuppa di pesce, die spanische Sarsuela und die französische Bouillabaisse, also regional gefärbte Köstlichkeiten, die von ihren griechischen Ursprüngen nichts verraten. Diese Geheimnisse ein wenig zu lüften, Verbindungen zwischen regionalen Spezialitäten herzustellen, war ein Anstoß für Dale und Galetto, sich an diesem Küstenstreifen auf Spurensuche zu begeben nach der gemeinsamen kulinarischen Geschichte, die geprägt ist vom Olivenöl.

Zunächst gilt es aber, sich einen Überblick zu verschaffen, was die beliebtesten Zutaten dieser Küstenregionen sind. Lebensmittel, von der Artischocke bis zu den Zwiebeln, im ersten Kapitel lexikalisch gelistet, werden in ihrem historischen und kulinarischen Kontext kurz vorgestellt. Da gibt es bereits erste Überraschungen. So erfährt man, welch tragende Rolle bspw. der Kabeljau oder Knoblauch oder Kichererbsen und einige andere Zutaten in dieser Küstenküche einnehmen. Auch einfache nützliche Tipps sind in diesen Kurztexten eingebettet. Bspw. sollten Artischockenböden sofort in Zitronenwasser gelegt werden, damit sie sich nicht verfärben. Aber es gibt auch die ersten Verweise auf Rezepte und damit auf das Besondere, das Kulturspezifische bestimmter Küstenabschnitte, wie die Foccachia con formaggio (Focaccia mit Käse) zu Genua oder die Bouillabaisse (Fischsuppe mit gedünstetem Fisch) zu Marseille. Allein der Fischsuppe ließe sich ein ganzes Kapitel widmen. Wenn man Marseillais, Toulonnais oder andere Einheimische der Provence nach dem richtigen Rezept der Bouillabaisse fragt, bekommt man immer eine andere Anleitung. Es gibt keine authentische Bouillabaisse ohne Weißwein heißt es einmal und ein andermal, es ist schlimmste Ketzerei, Weißwein hinzuzufügen. Wie dem auch sei, die Bouillabaisse setzt sich aus zwei Gerichten zusammen. Die einzige Schwierigkeit in der Zubereitung liegt darin, sie rasch und heftig zum Kochen zu bringen. Aber das Geheimnis einer gelungenen Bouillabaisse, lässt der Bürgermeister von Cassis die Kochbuchautorin Elizabeth David wissen, liegt im Olivenöl, im Safran und in der Vielfalt frischer Fische. Lucio Gallettos und David Dales Rezept erfüllt das alles und benötigt einige Kilo Fisch, also genügend, um eine ganze Fußballmannschaft satt zu machen.

Die Alltagsküche des nordwestlichen Mittelmeers hat aber viel mehr zu bieten und das zu beweisen sind die Autoren angetreten. Auf acht Kapitel verteilt werden Saucen & Dips, Snacks & Vorspeisen, Salate, Pasta & Reis, Brot & Pizza, Suppen & Eintöpfe, Einfache Genüsse sowie Desserts & Gebäck vorgestellt, die unsere Gaumenzäpfchen zum Erzittern bringen. Erste Station ist Genua. Pesto alla genovese wird serviert, ein Klassiker der Levante. Kenner wissen, dass die Zutaten im Mörser zermalmt werden; nur so kann sich das Aroma des Königskrauts, wie es die Römer nannten, voll entfalten. Würzsaucen spielen in der mediterranen Küche eine wichtige Rolle: ob mit Pasta serviert, in Eintöpfe eingerührt oder mit Brot als Dip gereicht, die Vielfalt und Buntheit erstaunt. Die Walnusssauce (Crema di noci) zu den Spinatravioli verstärkt die inhaltliche Komponente der Teigtaschen, waren so eine neue Erfahrung. Und die hier präsentierte Knoblauchmayonnaise oder Aioli ist nicht so üppig und schwer an Dottern und Öl, wie sie auf Bauernhöfen der Provence üblicherweise angerichtet wird, dafür reichhaltig an Knoblauchzehen. Diese leicht golden schimmernde Paste ist ideal für ein großes Familienessen mit gekochtem Fisch, Kartoffeln, Rote Bete, Karotten, Paprika, Bohnen, wird aber auch einfach auf geröstetes Brot gestrichen; mir genügt manchmal ein wenig Stangensellerie und Aioli zum Glücklichsein. Für Experimentierfreudige ist das Saucen & Dip-Kapitel allemal eine Herausforderung.

Der Appetitanreger als Vorstufe zur Mahlzeit hebt die Laune und die Stimmung der Gäste. Vom einfachen Tomatenbrot über Garnelen im Teigmantel, gratiniertem Fenchel bis zu frittierten Kartoffelbällchen mit Pinienkernen finden sich in diesem Kapitel eine Vielzahl an Köstlichkeiten, von denen einige in größerer Menge durchaus eine Hauptmahlzeit ergeben. Nicht widerstehen konnte ich dem katalanischen Kartoffelomelett (Truita de patates), das ein einfaches, relativ rasches und sättigendes Essen ist. Allerdings sind die Angaben mit 420 ml Olivenöl zum Braten und Ausbacken von drei mittelgroßen Kartoffeln zu hoch, dafür genügen ein paar Esslöffel. Zusammen mit einen Blattsalat schmeckte das Kartoffelomelett phantastisch. Apropos Salat: Nicht fehlen darf der Salade nicoise (Nizza-Salat), ein Festessen aus einfachen Zutaten und individuellen Extras. Galettos Nizzasalat ist ein Mischling oder ligurianisierter Nicoise, wie er ihn nennt. Viele Salate enthalten Meeresgetier, nicht aber Escalivada, das katalanische Grillgemüse, das mit viel geröstetem Brot und mariniertem Ziegenkäse serviert, einfach köstlich ist.

Verwundert liest man auf Seite 147, dass es schier unmöglich war, ein französisches Reisgericht zu finden, wenn man bedenkt, dass in der Camargue Reis angebaut wird. Wir glauben’s und stürzen uns daher auf die Paella Valenciana. In der Bratpfanne treffen Orient und Übersee mit Safran und Tomaten auf spanischen Boden, der Huhn, Kaninchen und Schnecken nährt. Hier profitiert, wer sich im Saucenmachen übte und die Fleischteile in der katalanischen Grundsauce Sofregit langsam anbrät. Verzaubert wurden ich und meine Freunde, die zum Essen kamen, allerdings von Barbajuan. Onkel Johann, so die Übersetzung, ist eine Art gebratene Ravioli, die mit Mangold gefüllt werden, und wenn der aufgebraucht ist, kann man Kürbis, auch Lauch oder anderes Gemüse verwenden. Äußerlich erinnern sie mich an die frischen goldbraunen dreiecksförmigen Tiroler Krapfen, die beim Hineinbeißen krachen. Auch mit Mehl und Wasser angemacht werden Brot- und Pizzateige. In diesem Kapitel treffen wir auf die italienische Focaccia und ihr französisches Pendant, die Fougasse. Sie unterscheiden sich nur in der Teigdicke und dem Anteil an Olivenöl. Ein einfaches Brot, das mit einer Handvoll Rosmarin zu einem Verführer der Sonderklasse wird. Die Focaccia ist eine Verwandlungskünstlerin. Mit Zwiebeln und Anchovis belegt wird sie zur berühmten Pissaladiera, die Land und Meer verbindet. Aber kaum ist sie mit italienischem Stracchino oder anderem Weichkäse belegt, zieht die Focaccia con formaggio ihre sahnigen Fäden an den Schnitträndern und vereinnahmt uns mit betörendem Duft.

Die Verführungen gehen weiter mit katalanischen Pizzen, Kichererbsen-Pfannkuchen und -Polenta, unzähligen Suppen, Eintöpfen, einfachen Gerichten; sie enden in der Abteilung Dessert & Gebäck. Hier steuern die Katalanen die  meisten Rezepturen bei. Weil die Araber im Mittelalter mit dem Zuckerrohranbau den teuren Honig verdrängten, nutzten die Einheimischen leistbaren Zucker zum Süßen ihrer Desserts. Im Milchreis mit Kirschen ist das Verhältnis frischer Kirschen zu Zucker zwei zu eins, wobei m. E. der Zuckeranteil um ein Drittel reduziert werden kann – der Milchreis verträgt es. Wer nicht bis Juni ohne diesen Milchreis leben kann, kann sich mit eingeweckten Kirschen behelfen. Benjamin, mein Sohn und Milchreisexperte, wollte auch nicht warten und rührte uns diese südfranzösische Variante an, mit Mandelmilch und Kirschen aus dem Glas. Glückselig, das ist wohl der richtige Ausdruck, und zufrieden waren wir, nachdem das letzte Reiskörnchen verputzt war. Als Nächstes haben wir uns die Spungata, eine ligurische Aprikosen-Tarte vorgenommen, aber noch sind wir satt vom Kirschmilchreis.

Am Ende fassen die beiden Autoren ihre kulinarische Spurensuche an der Mittelmeerküste zusammen. Während Dale zwölf Stationen, quasi Fundorte der Rezepte mit Verweisen auf Restaurants kurz beschreibt, lässt Galletto seine Entdeckerreise in Erinnerungssplittern Revue passieren. Unterhaltsam und informativ werden hier mediterrane Esstraditionen vermittelt, wie man sie kaum kennt. Die Kochtraditionen zwischen dem italienischen Bocca di Magra und dem spanischen Valencia sind wesentlich geprägt vom Kontakt mit den Griechen. Andere Zivilisationen kamen und gingen und beeinflussten nachhaltig die Rezepturen. Entstanden sind dabei berühmte Gerichte wie die Pissaladiera, ein Zwiebelkuchen mit Anchovis, oder Escalivada, eine geniale Vorspeise aus gegrilltem Gemüse oder Cuculli genovesi, das sind frittierte Kroketten mit Pinienkernen.

Wer also auch Hintergründiges über die Küche des Mittelmeeres erfahren möchte, ist mit Entlang der Küste von Lucio Galletto und David Dale bestens bedient. Während uns die abgebildeten Gerichte das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen, wecken stilvolle Fotos von den mediterranen Landschaften, deren Städten und seinen Bewohnern jene Sehnsüchte nach Süden, Sonne und Meer, die sich kaum in Worte fassen lassen. Das abstrakte Titelblatt mit blauem und goldenem Wellengang steht symbolisch auch für den Zeitenlauf, für die gegenseitige Beeinflussung der Kochstile an der ligurischen, provencalischen und levantinischen Küste. Dass sich im Laufe tausender Jahre in Cinque Terre, Genua, Nizza, Marseille, Girona, Barcelona und an anderen Orten des Mittelmeeres einzigartige Gerichte entwickelten, beweist Entlang der Küste, das im Sieveking Verlag erschienen ist.

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