Heute reisen wir in die EMIGRATION.
Marta Marková ist Tschechin, Journalistin und Publizistin, die sich verschiedensten Kulturthemen widmet. Ihre Interessen gelten neben Frauenbiographien wie Kafkas Freundin Milena vor allem den Schicksalen emigrierter Künstler:innen, Wissenschaftler:innen, Diplomaten:innen, Journalisten:innen, Schriftsteller:innen und anderen Persönlichkeiten. Sie selbst floh 1980 mit ihren zwei Kindern nach Wien, um dem eingeengten, von Armut geprägten Lebensalltag zu entkommen, wie er für nicht zur tschechischen KP-Nomenklatur Gehörige vorgezeichnet war. Soweit sie sich erinnern kann, hat sie das Kochen nie interessiert. Erst mit der Geburt ihrer Kinder in den 1970er Jahren änderte sich ihre Einstellung und damit auch ihr Lebensstil. Kochen bekam einen wichtigen Stellenwert, auch in den sonntäglichen Telefongesprächen, wenn die Mutter wissen wollte: Was kochst du gerade? Es ist erstaunlich, wie der Wandel von Saula zu Paula, wie Marta Marková zur Kochbuchautorin wurde, nachdem Kochen lange Zeit für sie eine besonders langweilige, zeitverschwenderische, unnötige Beschäftigung war. Dass sie plötzlich selbst gerne kocht, hängt unter anderem auch mit ihrer Emigration zusammen. Plötzlich bekommen die Rezepte von den Großmüttern und der Mutter eine andere Bedeutung. In dem neuen Zuhause in der Fremde erinnern Geschmack und Aromen an die Heimat. Daheim – und doch nicht zu Hause ist der Titel eines Kochbuchs, das im Innsbrucker Limbus Verlag erschienen ist. In ihm sind vor allem böhmische und mährische Rezepte versammelt. Im Untertitel heißt es pragmatisch: Kochen im fremden Land. Das heißt, die Autorin nimmt einerseits Rezepte aus fremden Ländern auf (bspw. Israel, USA, Mexiko und Italien), andererseits nimmt sie die Oma- Mutter-Küche mit ins fremde Land.
Die Erinnerungsküche, die Marta Marková beschreibt, ist geknüpft an Emigrantenbiographien. Diese sind ohne erkennbare Struktur zwischen den Rezeptblöcken eingestreut. Auch sind diese Lebensläufe nicht immer an Essenserinnerungen oder Kocherfahrungen gekoppelt. Im Gegenteil. Einige der Befragten haben gar kein besonderes Verhältnis zum Kochen. Es ist mehr ein Schwelgen in Erinnerungen mit manchmal witzigen Pointen. Etwa wenn Mariana Helen Frenk-Westheim von ihrer Mutter erzählt, die 1866 mit einem Backblech voll mit Buchteln durch den Hof im tschechischen Golčův Jeníkov ging und die Großmutter plötzlich hinter ihr rief: „Ježišmárjá, die Preußen sind da!“ Das Aroma heißer Buchteln löste eine traumatische Erinnerung aus, was auf die Nachkommen eine erheiternde Wirkung hat.
Und Stella Musulin – die von ihrer engsten Umgebung als absolute Nicht-Köchin eingestuft wurde – erinnern die Düfte von Teekochen, Marmeladen, Schokoladesoufflé und Apple Pie mit Rhabarber an ihre Kindheit. Als sie ihre Orangenmarmelade aus Valencia-Orangen selbst nicht mehr machen konnte, traute sie ihrer kroatischen Pflegerin zu, eine solche Marmelade zu kreieren, selbstverständlich unter strenger Aufsicht und in persönlicher Anwesenheit. Es war eine Feierlichkeit, ein Ritual, ein In-sich-Kehren. Die sehr britische Orangenmarmelade muss ich natürlich ausprobieren. Allerdings bevorzuge ich sizilianische Orangen.
Markovás Kochbuch, das nicht nur ein Kochbuch sein will, ist in sechs Kapitel unterteilt. Am Anfang erfährt man ‚Grundlegendes‘, das sind verschiedene Basisrezepte, diverse Teige und Saucen, wie sie in der böhmischen Küche verwendet werden. Kapitel zwei widmet sich den ‚Vorspeisen, Suppen und Aufstrichen‘. Den Reigen eröffnet das böhmische Nationalessen spekacky, eine eingelegte Speckwurst, die mit Neugewürz verfeinert wird. Neugewürz, auch als Nelkenpfeffer bezeichnet, weil sein Aroma dem von Nelken und Pfeffer ähnelt, ist bei uns als Piment bekannt. Neugewürz ist ein Allrounder und wird dem polnischen Krauttopf genauso beigegeben wie den Miletiner Gebetsbüchlein, ein Lebkuchen aus dem Riesengebirge. Mitunter deftig sind die Rezepte in diesem Abschnitt. Da wird gehackte Hühnerleber als jüdische Vorspeise aufgetischt, Olmützer Quargel alias Großvaters stinkender Ochs gereicht oder eine Brimsensuppe neben Linsen-, Sauer- und Erdäpfelsuppe. Alles böhmisch, wie auch der frische Schafkäse, der dort Brimsen heißt, und auch in der polnischen, slowakischen und ungarischen Küche verwendet wird.
‚Salate, Beilagen und Brot‘ lösen die Suppen ab. Den Innsbrucker Wurstsalat hat wohl Marta eingebracht, die in dieser Stadt auch lebt. Auffällig sind die zum Teil lustigen Namensgebungen der Gerichte. Zum Beispiel: Teigwarensalat aus Cambridge oder Karottensalat für Männer im besten Alter oder südkalifornischer Sonnenuntergang in Yosemite, was eine Suppe mit Karotten und natürlich Valencia-Orangen ist, beide stehen symbolisch für die Strahlkraft der Sonne. An Broten gibt es ein Bananenbrot für Groß und Klein sowie das jüdische Challa für den Schabbat. Aber auch Pogatsche, das sind Grammel- bzw. Griebenkekse, die mit halbgrobem Mehl und einem halben Kilo ausgelassenem Speck, eben Grammeln, in der Pfanne herausgebacken werden. Bleibt noch die Frage: Was ist halbgrobes Mehl? Darauf gibt es leider keine klärende Antwort, auch von der Autorin nicht. Marková merkt lediglich an, dass halbgrobes Mehl ein Bestandteil der tschechischen und mährischen Küche ist, typisch für Kuchen aller Art, und dass sie das österreichische Farina Mehl als Ersatz verwendet.
Mit dem Kapitel ‚Hauptspeisen‘ sind wir endgültig im Land der ehemaligen KK-Nordgebiete angekommen. Vom böhmischen Lammtopf über Pofésky und slowakischen Brimsennockerln bis zu den ostböhmischen Erdäpfelnockerln reicht die Palette der altösterreichischen Küche, eingestreut sind dazwischen einige Fahnenflüchtlinge wie der Florentiner Auflauf oder die spanischen Vögel im mährischen Winterschlaf etc. Ebenso ausführlich wie den Hauptspeisen widmet sich die Autorin den ‚Mehlspeisen, Kuchen und Süßes‘. Einige dieser Gerichte aus der böhmisch-mährischen Küche sind mittlerweile auch in vielen europäischen Küchen fix verankert. Die böhmischen Buchteln etwa mit diversen Füllungen oder der Zwetschkenröster oder Kolatschen mit Topfen- oder Nussfüllung. Und dann kommen doch noch einige Neuentdeckungen zum Vorschein. Die Orangensulz, ein leichtes Dessert nach schwerem Essen, oder Omas Judaskuchen, ein geflochtenes Hefegebäck, das symbolisch an das Seil erinnern soll, an dem sich Judas aufgehängt hat. Auch soll genossener Judaskuchen vor Schlangenbissen und Wespenstichen schützen.
Fünf ‚Drinks‘ setzen den Schlusspunkt dieses Kochbuchs. Beton, ein Gebräu aus tschechischen Kräuterlikör und Tonic Water, dem nur eine Zitronenscheibe die Härte brechen kann. Liebhaber flüssiger Nussaromen erfahren, wie der Böhmische Nussschnaps ‚Nordpol‘ mit grünen Walnüssen anzusetzen ist. Natürlich darf auch der heimelige Eierlikör der Großmutter nicht fehlen, wie auch der Cosmopolitan, mit dem das Weltoffene gefeiert wird. Allerdings tendiert der kosmopolitische Drink leicht nach Osten, mit einer Dreiviertel Mehrheit von Zitronenwodka gegenüber dem Cointreau. Kurz währte der Prager Frühling 1968. Und den Prager Glühwein der Achtundsechziger, deute ich als hommage für jene Menschen, die sich für die Emanzipation und Freiheit ihres Landes einsetzten. Viel Rotwein und Orangen werden dafür aufgekocht; das ist doch ein respektabler Schluss!
Hervorzuheben sei noch die grafisches Gestaltung des Kochbuchs. Jedes Kapitel wird mit einem Tempera-Bild von Anežka Kovalovás eröffnet. Es sind Grafiken, die die Stimmung des Kochbuchs stark prägen, mich an die Skurrilität eines Karel Capek erinnern.
Mit Daheim – und doch nicht zu Hause hat uns Marta Marková ein durchaus spannendes Kochbuch über die böhmisch-mährische Küche geliefert. Der Versuch, Heimatgefühl übers Essen anhand ausgewählter Kurzbiographien zu vermitteln, ist nicht immer überzeugend und manches lässt uns ratlos zurück. Die fehlende Stringenz konnte auch nicht durch die Einbeziehung jüdischer Esstraditionen wett gemacht werden. Dennoch finde ich die Rezeptsammlung sehr gelungen und eine Fundgrube für alle Köche und Köchinnen, die die böhmisch-mährische Küche mögen.