Heute reisen wir nach LONDON.
Ins berüchtigte Soho. Über die Stadtgrenzen hinaus berühmt geworden, weil einige AutorInnen die Schauplätze ihrer Texte dorthin verlegten, die zu Weltliteratur wurden. So trieb Mackie Messer dort sein Unwesen wie auch Dr. Jekyll, der, zur Horrorfigur Mr. Hyde mutiert, in diesem Stadtteil ordinierte. Heute hat sich vor allem die Schwulen- und Lesbenszene dort etabliert, aber auch der Lifestyle mit unzähligen Bars und Restaurants. Ein Etablissement der gehobenen Küche ist ‚The Palomar‘ in der Ruppert Street 34. Dort werkeln relativ viele Jungköche, die sich um Tomer Amedi und Yossi Elad alias der Pate scharen. Es ist eine Crew von Emigranten mit arabischen und israelischen Wurzeln, die eines eint: leidenschaftliches Kochen. Eine Vielzahl mediterraner Aromen schlagen den Gästen beim Betreten des Restaurants entgegen. Aus der offenen Küche dringen Sprachfetzen wie Balagan oder Kapara und immer wieder Yalla Yalla usw. Diese Küchenbrigade erfand ihr eigenes Wörterbuch, ein polyglottes Mischmasch aus Hebräisch, Kurdisch, Marokkanisch, Italienisch und anderen Sprachen. Die Köche aus aller Herren Länder konnten sich dadurch viel schneller integrieren. Zur Aufklärung noch: Balagan ist „eine große Sauerei“ im hebräischen Slang, Kapara steht für „meine Rettung“, das vor allem marokkanische Mütter liebevoll ihren Kindern zurufen, und Yalla, Yalla ist bereits internationalisiert und steht für schneller, schneller.
Im Restaurant schaut man den Akteuren beim Zubereiten der Gerichte gerne zu. Sehr locker und mit viel Spaß kreieren sie eine moderne israelische Küche, die beeinflusst ist von Familientradition und dem melting pot der Kulturen, der Israel nun mal prägt. Im Lokal herrscht ein ständiges Kommen und Gehen der Gäste, es wird aufgedeckt und abgetragen, gekocht und abgewaschen, eingesponnen in eine anregend, fröhliche Geräuschkulisse, die Tomer Amedi an einen Taubenschlag erinnerte. Und die spanischen Herrscher Kaliforniens im 17. Jhdt. nannten ihre Taubenschläge Palomar. Das Restaurant hat sich innerhalb kürzester Zeit einen guten Ruf erkocht. Deshalb war es nur eine Frage der Zeit, bis sich das Team mit einem Kochbuch verewigt. Hieß die englische Ausgabe in Anlehnung an den Restaurantnamen „The Palomar Cookbook“, so wurde für die deutsche Ausgabe der Titel reduziert und erweitert: Palomar. Kreative israelische Küche ist bei Dorling Kindersley erschienen.
Auffällig ist zunächst, dass dieses Kochbuch viele Väter und wenige Mütter hat, also ein Gemeinschaftswerk der Palomar-Besatzung ist. Auch, dass die kulinarischen Zugänge sich einer Systematik unterordnen, die abweicht vom klassischen Kochbuchaufbau. Nach einer kurzen Einführung geht es zunächst um die Frage: Was ist im Küchenschrank? Tomer, der Chef himself, ist dafür zuständig und gesteht, bekennender Speisekammer-Voyer zu sein. Auch dass die Speisekammern im Palomar und bei ihm zu Hause sich sehr ähneln. Und, das ist das wichtigste, dass die meisten gelagerten Zutaten lange halten. Wie gerne würden wir einen Blick in einen dieser Vorratsschränke werfen und festhalten, was neben Granatapfelsirup, Freekeh, Bulgur, Rosenwasser etc. noch alles gelagert wird. Einiges erfährt man und mehr noch, wird fachkundig beschrieben, warum bspw. im Palomar israelisches Couscous verarbeitet wird, wie ein gutes Tahin sein muss, eben nussig und glatt mit dem Hauch von Süße, oder welche Gewürze vielfach verwendet werden, inklusive der Anleitung für die wichtigsten Mischungen wie Ras el-Hanout oder Baharat. Dann aber dreht sich alles nur mehr ums Essen.
In vier Kategorien gegliedert, die gleichzeitig die Hauptkapitel darstellen, werden 100 Rezepte präsentiert.
In vielen jüdischen Familie gibt es unzählige kleine Rituale, wenn es um ein großes Essen geht. Man macht sich fein, versammelt sich um einen großen Tisch mit Freunden, Gästen oder nur Familienmitgliedern, segnet den Wein und das Challah-Brot und dann werden Kleinigkeiten wie verschiedene Mezze, gewürzte Oliven mit Rosenblättern & Balsamico-Essig, Samttomaten (Seite 30) usw. aufgetischt. Die sind zusammengefasst in dem Kapitel Vor dem Essen, das sowohl kleine, feine Aufstriche enthält wie auch Basismischungen für umfangreichere Gerichte. So wird etwa Zitronenpüree sowohl für Kubaneh-Burger mit „pulled lamb“ als auch für Shakshukit und eine Reihe anderer Gerichte verwendet. Wie das Zitronenpüree gehören auch Harissa, die weiße Sesamsauce, Schug, ein jemenitisches Chili- und Korianderpüree, Tapenade sowie Tsatsiki zu den Basics der Palomar-Küche, die gleichzeitig Ausdruck unterschiedlicher Kultureinflüsse sind, die die moderne israelisch-arabische Küche prägen. Und wer hier denkt, ach, das kenn ich schon, täuscht sich. Der feine Unterschied liegt im Detail, in den Abweichungen der Mengen und Gewürze. Die Falafel von Yossi Elad musste ich, obwohl schon öfters gemacht, deshalb ausprobieren. Zunächst weil er nur mit Kreuzkümmel würzt und mit Kichererbsenmehl bindet, wofür ich immer mehrere Würzen und normales Mehl verwendete, vor allem aber weil Yossis Falafel in der Abbildung sehr hell, fast schon grüngelb sind. Die Farbe bekam ich nicht ganz so hin, vielleicht hätte ich noch mehr Koriandergrün, wie in der Variation angegeben, verwenden sollen. Geschmeckt hat es allemal und mich an meine erste Falafel erinnert, die ich in Jerusalem vor dem Damaskustor gegessen habe.
Etwas aufwändiger war dann schon das Rote-Bete-Carpaccio mit Linsenkräckern. Hier werden vier Arbeitsgänge zu einer kleinen Überraschung zusammengeführt. Erwähnt werden muss auch, dass die Vorbereitungen am Vortag beginnen wie bei vielen orientalischen Gerichten. Daher sollte vor Kochbeginn immer das Rezept studiert werden. Hier macht sich auch der Aufbau, wie die Rezepte präsentiert werden, bezahlt. Die Zutaten der einzelnen Bausteine, aus denen sich das Gesamtwerk zusammensetzt, sind in Kästen gerahmt. Ein Design, das sich durchzieht und auf einen Blick den Aufwand abschätzen lässt. Wie auch allen Rezepten ein kurzer, meist vergnüglicher Text über Entstehung, allgemein Hintergründiges wie auch Persönliches vorangestellt ist, dem eine klar strukturierte, gut nachvollziehbare Anleitung folgt. Der Aufwand an Zeit wie auch an Zutaten für das Carpaccio hat sich gelohnt.
Der zweite Zugang ist dem Rohen gewidmet. Hier sind es vor allem fischlastige mit einer Minderheit an fleischigen Beiträgen und Salaten, die vor allem Rot- und Grünzeug enthalten. Ein Kapitel, das viele Überraschungen parat hält wie Grazias Tomatensalat , eine hommage an Tomers Großmutter, die diesen wirklich säuerlichen und scharfen Salat kreierte.
Das umfassendste Kapitel ist den Hauptdarstellern gewidmet. Wunderbares tut sich hier auf. Nicht nur enthalten einige Gerichte zwei oder drei Rezepte, quasi Untergerichte, die auch als Beilage zu anderen Gerichten passen, nein, hier kommen endlich auch viele der Basics aus der Vor- dem-Essen-Abteilung zum Einsatz. Völlig hingerissen bin ich von Shakshuka im neuen Stil, das mit wenigen Abänderungen der Zutaten diesen Klassiker einmal, zweimal, dreimal neu erfindet. Dieses Rezept müssen Sie ausprobieren. Interessant ist auch, dass Palomar dem Blumenkohl viel Raum und Chancen gibt. In genau vier Rezepten muss ich dann nach einer Zählung kleinmütig abschwächen. Aber der Seehecht mit frittiertem Blumenkohl war einfach sensationell. Das heißt aber nicht, dass der Rest … Sie wissen schon. Nein, ganz und gar nicht. Mit dem Kubaneh-Burger mit „pulled lamb“ konnte ich meine „verfressenen“ Söhne gut in Schach halten. Die waren satt, aber auch voll des Lobes und wollten unbedingt das Rezept, das sie auch bekamen.
Im vierten Kapitel wird dann aus der Backstube geplaudert. Hier treffen sich wieder Tradition, Bekanntes und Neuschöpfungen. Hier finden sich von betörenden bis abgefu…ahrenen Verführungen alles Denkbare, was die Konditorenstube hervorgebracht hat. Der Hartweizengrieskuchen mit Kumquat hat es mir angetan, vielleicht auch deswegen, weil Basbousa, so der Originaltitel, soviel wie „Hör auf zu küssen“ heißt, was im übertragenen Sinn „Du bist zu süß“ bedeutet.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie wandlungsfähig die moderne jüdisch-arabische Küche ist. Palomar, die kreative israelische Küche zeigt es überdeutlich. Vielleicht liegt es am Haus Palomar, an den guten englischen Geistern, die dort „hausen“ und die Köche so stimulieren. Sicher trägt die ausgezeichnete Stimmung der Kochbrigade bei wie auch ihre Internationalität. Das betrifft vor allem das Inhaltliche der vorgestellten Speisen und Leckereien. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die hervorragenden Fotos von Helen Catcarth. Ihre Größe bewies sie schon dadurch, dass sie auch bereit war, einige Gerichte wider ihr besseres Wissen von Tomer „ausstatten“ zu lassen. Stimmungsvoll zudem die doppelseitigen Innenaufnahmen mit schönen Frauen, die sich lustvoll dem Essen hingeben. Palomar. Kreative israelische Küche ist unglaublich inspirierend.