Heute reisen wir nach FRANKREICH.
Ins Elsass, das in der oberrheinischen Tiefebene liegt, eingebettet zwischen den Vogesen und dem Schwarzwald. Ein Grenzland mit wechselhafter Geschichte und optimalen Bedingungen für den Weinbau. Die Terroirs ziehen sich von Süd nach Nord, parallel zum Flüsschen Ill, das in den Rhein mündet.
Das Elsass ist aber nicht nur wegen seiner guten Weißweine bekannt, sondern auch wegen seiner bodenständigen Küche und seiner hervorragenden Gastronomie. In dem kleinen Dorf Illhaeusern nahe bei Colmar, befindet sich die ‚Auberge de l‘Ill‘, die seit 138 Jahren von der Familie Haeberlin geführt wird. Bereits um 1900 war das Gasthaus, das damals noch Grüner Baum hieß, wegen seiner Wildgerichte und des Fischeintopfs ‚Matelote‘ so berühmt, dass die Gäste sogar aus Strassburg und Paris kamen. Heute wird die ‚Auberge de l‘Ill‘ in vierter Generation von Marc Haeberlin geführt; seine Küche vereint die elsässische Tradition und die moderne haute cusine. Zudem leuchten über diesem Restaurant zwei Michelin-Sterne. Ob die Küche des Auberge nun ein Abbild der Familie Haeberlin, die ihr Kochwissen von Generation zu Generation weitergab, oder ob sie ein Verdienst von Marc’s experimenteller Kochfreude ist, ist letztlich irrelevant. Sie wird wohl beides beinhalten. Entscheidend ist, dass die Auberge von einem Ausnahmekoch geführt wird, der Kreativität und Handwerk in sich vereint. Marc Haeberlin ist dieser Mann und weil er zu Lebzeiten bereits eine Kultfigur ist, hat der Tre Torri Verlag ihm in seiner Reihe Gourmet Edition ein Kochbuch der Extraklasse gewidmet. Das Werk, Die Kochlegende Marc Haeberlin, so der Titel, vereint in sich eine stattliche Zahl exquisiter Rezepte wie auch Küchengeschichten, die den Grundstein für Legenden bilden.
Der Aufbau des Kochbuchs ist klar strukturiert. Fotostrecken über mehrere Seiten am Anfang und am Ende verschaffen einen eindrucksvollen Einblick über das Innen- und Außenleben der ‚Auberge de l‘Ill‘ wie auch der Les Haras Brasserie in Strassburg.
In der Einleitung, mit dem treffenden Titel ‚In Spuren gehen‘, erfährt man, warum die Auberge ein Erfolg ist. Sie ist eingebettet, so scheint es, in einem Ort mit magischer Ausstrahlung, in dem die Zeit still zu stehen scheint. Dort wirkt der Koch-Geist von Paul Bocuse, Gaston Lenotre und der Brüder Troisgros. Sie waren Marcs Lehrer. Aber auch seine Großmutter und seine Mutter förderten den talentierten Jungkoch; sie duldeten kein Stehenbleiben. Dazu kommt die Dialogbereitschaft mit den Jahreszeiten und das sich Einlassen auf den Eigengeschmack der Produkte. Und dann das Harmoniestreben von Speisen und Weinbegleitung, das Marc Haeberlin bis zur Besessenheit zelebriert.
Aus dem einführenden Gespräch zwischen dem Koch Haeberlin und Stefan Pegatzky erfährt der Leser, die Leserin dann sehr viel Biographisches. Wie und warum sich der Kochstil und die Karte im Laufe der Jahre veränderte. Welche Gerichte die 3-Sterne erwirkten. Warum er zu den traditionellen Garmethoden zurückkehrte. Und vor allem, dass die Balance mit dem Wein wichtig ist wie auch die Harmonie von Aromen und Würzen entscheidend. Das beweist Marc Haeberlin anhand seiner bedeutendsten Rezepte und präsentiert 35 Gerichte, die vier Bereichen zugeordnet sind. Den Vorspeisen folgen Festmahle mit Fisch, Froschschenkel und Krustentieren. Die wiederum werden vom Kapitel Fleisch, Geflügel, Innereien und Wild abgelöst. Schon sind wir beim Nachtisch, Desserts der Sonderklasse. Den ultimativen Schlusspunkt bilden Basisrezepte von Brühen und Saucen sowie Mehlbutter zum Binden, Demi-Glace und einem phantastischen Blätterteig.
Bereits beim ersten Durchblättern wird man eingenommen von den großformatigen Abbildungen der Gerichte. Ich habe das Gefühl, als bewege ich mich durch eine Gemäldesammlung. Es sind kunstvoll arrangierte Speisen mit klaren Strukturen, deren frohes Farbenspiel und dekoratives Beiwerk vielerlei Interpretationen zulassen. Bilder die eine gewisse Heiterkeit und Unbeschwertheit ausdrücken, bei deren Betrachtung man zu leicht vergisst, dass das Dargestellte ein Ablaufdatum besitzt.
Jeder bildhaften Vorstellung folgt die ausführliche Beschreibung der Zubereitung und – das ist das Markenzeichen der Kochlegendenreihe – ein geistreicher Kommentar über die Köstlichkeit. Ähnlich wie bei einem inneren Monolog, erfahren wir mehr von den inspirativen Ideen und Gedanken des Kochs im Kontext seiner kulinarischen Schöpfung. So ist der Gemüseteller mit Eischnee bereits ein kleines Gesamtkunstwerk, das Haeberlins Vorstellung von roh und gekocht demonstriert. Es ist eines der wenigen vegetarischen Rezepte mit rohem Gemüse, das einen Kontrapunkt darstellt zur gehobenen Küche, die traditionell gekochte Lebensmittel auftischt. Der Gemüseteller bildet eine wunderschöne Natur ab, die an das Märchenhafte grenzt. Der rosa gebratene Thunfisch mit Maiskuchen und Gambas im Teigmantel ist hinsichtlich seiner dekorativen Eleganz von Asien inspiriert, während einige Zutaten den spanischen Einfluss nicht leugnen können. Wirft man einen genaueren Blick auf die Zubereitung, dann kommt besonders Japan ins Spiel mit dem kurz angebratenen, innen noch rohen Thunfisch und den mit Kadaif-Nudeln umhüllten Riesengarnelen, die frittiert sich an japanischen Tempura-Zubereitungen orientieren.
Hochspannend fand ich seine Vorstellung vom Kulebjak von Zander und Lachs. Kulebjak ist eine russische Pastete mit Hefeteig, die gefüllt wird mit einigen vorgekochten Zutaten, bspw. Eier, Spinat, Champignons und Rundkornreis. Es war kein geringerer als August Escoffier, der dieses Gericht nach Frankreich brachte. Marcs Pastete ist sehr stark reduziert auf Zander, Lachs, Fischmousse und Wirsing. Eine wunderbare Neuinterpretation eines traditionellen russischen Gerichts.
Vergleichsweise einfach dagegen ist das ‚Matrosengericht‘ Matelote zuzubereiten. Unzählige Variationen gibt es davon, die alle auf ein altes Fischergericht zurückgehen, das meistens aus Süßwasserfischen, aber vorwiegend Flussfischen und Wein besteht. Von ihr schrieb Grimond de la Renière, ein Gourmand des 16. Jahrhunderts, dass die beste von der Ile de Cygne, der Schwaneninsel mitten in Paris käme. Das sei heute noch so, wirft Vincent Klink ein, aber wahrscheinlich kennt er nicht die von der ‚Auberge de l‘Ill‘. Dort werden immer noch verschiedene Varianten der Matelote serviert, behauptet jedenfalls der Kommentator. Und der berühmte Frauenliebhaber Casanova hatte für betrogene Ehefrauen unter anderem auch eine Matelote im Repertoire, lässt uns Gerd Wolfgang Sievers wissen. Jedenfalls ist diese cremige Fischsuppe ein Gericht mit Wohlfühlcharakter. Sie passt auch wunderbar zum behaglichen Ambiente der Auberge und ist enger mit der Lokal-Geschichte verknüpft als alle anderen Gerichte.
Nachgereicht sei noch ein feines Dessert. Eine Eis-Baiser-Torte, die ich nicht unbedingt nach einer Matelote empfehlen würde, denn da wäre eine kleine Käseplatte wohl bekömmlicher. Jedenfalls ist die Wacherin nach Art von Oma Haeberlin zwar aufwändig in der Zubereitung aber auch die leckerste von Großmutters Desserts, ist sich ihr Enkel sicher. Das Trio aus Baiser, Sahne und Eis ist einfach nicht zu schlagen. Man kann sie sicherlich anders, aber nicht besser machen, behaupten jedenfalls die Köchinnen und Köche der ‚Auberge de l‘Ill‘, und die sollten es wissen.
Das Buch über die Die Kochlegende Marc Haeberlin ist ein kleines Juwel. Hier wird ein äußerst sympathischer Koch vorgestellt, der sich vornehm zurückhaltend im Milieu der Sterneköche bewegt. Zudem wird uns ein Blick hinter die Kulissen eines Gourmet-Restaurants gewährt, in der Kreativität und Handwerk perfekt aufeinander abgestimmt sind. Das verdankt Marc Haeberlin bis zu einem gewissen Grad seinem Hang für Präzision eng geknüpft an seine Koch-Leidenschaft, seine Ausdauer wie auch seinen Instinkt für kulinarisch Großes. Haeberlins Küche ist keine einfache, das muss klar gesagt werden. Aber seine Rezepte sind eine lohnende Herausforderung für alle, die sich von ihnen inspirieren lassen.