Roland Essl, Alpenkulinarik

Geschichten und Rezepte der alpenländischen Küche

Mit einem Geleitwort von Sepp Forcher
Verlag Anton Pustet, Salzburg, 2021, 320 Seiten, 32.-- Euro
ISBN 978-3-7025-1024-4
Vorgekostet

Heute reisen wir in die ALPEN.

Kartographisch genauer sind es vor allem die östlichen Bundesländern Österreichs. Ein Gebiet, das vom Salzburgischen Pongau bis in die Alpenausläufer der Türnitzer und Gutensteiner Alpen reicht. Im Süden nehmen wir noch das Randgebirge der östlichen Mur mit. Wir durchstreifen ein Fläche, die etwa ein Fünftel Österreichs ausmacht. Kernland, das geprägt ist von Almen und Bergen zwischen 900 und 3000 Metern. In den Tälern eingebettet zwischen unwirtlichen Felsgetümen und fruchtbarem Ackerland leben Bauern, welchen heute unser besonderes Augenmerk gilt. An unserer Seite Roland Essl, ein Koch, der sich der Erforschung der Alpenkulinarik verschrieben hat. Schreiben ist neben dem Kochen wohl seine Leidenschaft. In den Salzburger Nachrichten ist seine Kolumne ‚Gerichte mit Geschichte‘ sehr beliebt bei den Leserinnen und Lesern. Nun hat er Teile dieser Kolumne in einem Kochbuch zusammengefasst. Alpenkulinarik – so der Titel – ist jenen Speisen gewidmet, die vor allem in den ländlichen Gebieten des eingangs umrissenen Alpenlandes mündlich von den Bäuerinnen an die Töchter, von den Omas an die Enkelinnen weitergegeben wurden. Essl durchstreifte das Land auf der Suche nach originellen Schmankerln, die er so einem breiten Koch-Publikum zugänglich macht. Seine Methode der Oral History mit Quellenstudium in Bibliotheken, die angeführte Literatur ist wohl nur die Spitze des Eisberges der gelesenen Bücher, beschert uns die alpenländische Küche in unterhaltender und gleichzeitig lehrreicher Form, wie Sepp Forcher in seinem Geleitwort anmerkt. Und weiter heißt es dort: … kein Kochbuch im üblichen Sinn.

Das zeigt sich bereits im Inhaltsverzeichnis. Nach dem kurzen Geleitwort von Sepp Forcher breitet Roland Essl seine gastrosophischen Gedanken aus und begründet so den Aufbau seines Werkes. In Kurzform heißt das: Die besondere Klimatik wirkte sich auf die Kulinarik der ersten Besiedler der Alpen aus. Das waren vor allem Bauern, die das Land urbar machten und mit den kargen Zutaten Schmackhaftes zubereiteten. Im Laufe der Geschichte kam es zu Fremdeinflüssen mit Obst- und Gemüsesorten nichtalpiner Herkunft, die von Durchreisenden und Eroberern mitgebracht wurden.

Und er schreibt auch, dass die Sehnsucht nach Ritualen, wie Hunger gestillt werden kann, … die schon in den ersten Minuten nach der Geburt beginnt. Das ist leicht überzogen, denn das Stillen wie auch jede Mahlzeit deckt die basalen Bedürfnisse der Menschen. Dass Rituale im ländlichen Raum eine große Rolle spielen, um die Nahrungsmittel sicher zu stellen im Kreislauf der Natur, ist ein anderes Kapitel.

Das erste Rezept, die Osttiroler Hochzeitskrapfen wurde vor allem im Iseltal zu Hochzeiten und früher in vielen Häusern am Heiligen Abend mit einer Nudelsuppe und Würstel serviert. Krapfen können tückisch sein und nicht aufgehen. Über diese platten Rundeln muss man sich nicht ärgern, denn sie schmecken nicht schlechter. Äußerlich haben die Hochzeitskrapfen eine gewisse Ähnlichkeit mit Scones. Allerdings sind die Krapfen zeitintensiv, das sollte allen klar sein, die sich an dieses Gericht wagen.

Das erste Kapitel widmet sich der alpinen Geschichte der Kulinarik. Den beigefügten Rezepten kommt dabei die Rolle des geographisch-historischen Absteckens zu, denn Wirsingknödel mit Erbsensauce, Quittenkäse, Uhudler-Weinsuppe und Bauernbrot  markieren die Einflüsse von außen. Das reicht von den Römern über Karl den Großen und den Klöstern mit den einzigartigen Gärten, von östlichen und westlichen Beziehungen, von den Auswirkungen der kleinen Eiszeit bis zu den ersten Kochbüchern und dem Stellenwert des Glaubens. „Und gib uns unser täglich Brot“ zeigt auf, dass dieses Grundnahrungsmittel nie selbstverständlich war. Das dazugehörige Bauernbrot-Rezept ist jedoch schon ein verfeinerter Sauerteig mit verschiedenen Mehlsorten und Buttermilch.

Das zweite Kapitel gilt der Fastenküche. Darben und Überfluss lagen eng beisammen. Karpfen, Schnecken und Kabeljau kommen jetzt auf den Tisch. Das heißt in ausgesuchten Restaurants. Spätestens hier zeigt sich, dass Essl seine Ausführungen nicht nur auf das Alpine beschränkt sondern sehr weit fasst. Eben jene Abstecher hin zu den holländischen Bauern des 16. Jahrhunderts, die mit gesalzener Butter den Butterschmalzmarkt revolutionierten, oder zu den ersten Kochbüchern mit ihren exotischen Schildkröten- und Schneckenrezepten oder den neufundländischen Fanggebieten portugiesischer Fischer, die mit getrockneten Kabeljau – besser bekannt als Stockfisch – den Bedarf an Fisch in der Fastenzeit in Europa abdeckten. Essl lässt sich gerne von der Weltgeschichte ablenken, vergisst so, manchmal sich auf das Eigentliche, die Alpenkulinarik, zu konzentrieren. Das kann man gut oder schlecht finden. Ich bewundere aber vor allem Roland Essls erzählerisches Talent, wie er mit leichter Feder Gewichtiges erzählt. So erfahrenen wir vom Einwanderer Blumenkohl, der aus Kleinasien über Italien in unsere heimische Küche fand. Das beigefügte Karfiolrezept stammt allerdings aus Indien und wird als Suppe serviert. Dort erzählt man sich über die Mulligataway eine bekannte Pfeffer-Geschichte, in der ein Tamilenhäuptling einst einem Engländer ein Gericht aus Linsen und Gewürzen servierte. Nach dem Namen der Suppe gefragt, erhielt der Engländer ‚Molaga tanni‘ – das ist tamilisch für Pfefferwasser – zur Antwort. ‚Hervorragend’, meinte der Brite, ‚wir wollen häufiger Mulligataway (Currysuppe) haben.‘ Und wenn wir nicht Essls Mulligataway  mit Kokosmilch und Hühnerbrust verfeinert nachkochen, so können wir dennoch jedes Jahr zu Silvester Butler James zusehen, wie er der betagten Miss Sophie eine Mulligataway als ersten Gang serviert.

Ab dem dritten Kapitel wird es dann ernst. Nun tauchen wir ein in die autochthone alpine Küche, wie sie im Pongau, Lungau, Wipptal, Waldviertel und anderen traditionsreichen wie uralten Kulturlandschaften des östlichen Alpenlandes praktiziert wird. Da stoßen wir auf Lungauer Hasenörl, Pongauer Fleischkrapfen, Pinzgauer Seelenkrapfen mit SauerkrautHergottsbscheißerl, Hoargneistnidei und andere schmackhafte Kuriositäten. Dabei geht es ums Schmalz in der Küche (Kapitel 3) und Geschichten der Almnutzung (Kapitel 4) sowie in weiteren Kapiteln um Kräuter, Gemüse, Beeren, Obst und Käse. Mit dem Brennnessel- Krapferl mit Kräuterdip tauchen wir ein in den merkwürdigen französischen Brennnesselkrieg im 2002er Jahr, lernen mit Powidl den ältesten Fruchtaufstrich der Welt kennen wie auch mit dem Schabzigerklee, eine Steinkleeart und ein nicht so vielen bekanntes Gewürz der Käse- und Brotproduktion.

Natürlich dürfen Glaube, Mythen und Hexenwesen in der bäuerlichen Kulturwelt nicht fehlen. Und so werden Vogelbeer, einst ein heiliger Baum, und die ‚Weiße Frau‘, Frau Holle, mit entsprechenden Gerichten wie das Vogelbeerkompott den Erdäpfel-Holunder- Tascherln oder der Steirischen Klachlsuppe gewürdigt.

Dass die Bauern immer schon beim Verwerten der Tiere das Nose to Tail-Prinzip anwendeten, ist bereits allbekannt. Weniger die Gerichte, die aus solchen Schlachtfesten hervorgingen. Oder kennen Sie die Salzburger-Kalbs-Mettenwürste, das Ritschert, das das Geselchte und die Rollgerste würdigt, oder die Breinwürste, ein Arme-Leute-Essen in dem der Schweinskopf zum Zuge kommt.

Weitere Kapitel befassen sich mit der Waldviertler Küche, den Nudeln, Knödeln und Nocken, den Einwanderern wie Mais, Polenta, Schokolade und Margarine in die alpenländische Küche. Immer wieder fließt dabei Volkskundliches ein, erzählt der Autor von Gerichten, die beim Abschluss von Arbeitszyklen, wie dem Dreschen oder nach Holzarbeiten kredenzt wurden. Da gab es dann Hoamfoarkrapfen oder ein Rehbraten mit Blaukraut und Böhmischen Knödeln. Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass die Bauern auch zu feiern verstanden und wohlschmeckende Gerichte in den Kochtöpfen und Brätern vor sich hin schmorten. Etwa die Kletzennudeln oder Zottelkrapfen wie auch die Selchfleischkrapfen aus Germteig, die etwa den Fasching kulinarisch bereicherten. Dazu gab es auch reichlich Bier entweder in der Suppe oder aus dem Kessel.

In den letzten beiden Kapiteln kommt noch einmal der Koch und Dozent als Philosoph und Hobbymetzger zu Wort. Joachim-Ernst Berendts Ansatz, ‚Die Welt ist Klang’ übernahm Essl in seine Überlegungen über die Gewürze und Aromen als Stimmungsmacher. Und ordnete so den Gewürzen entsprechende Instrumente zu. Der Pfeffer ist das Schlagzeug, es gibt den Rhythmus. Wacholder ist ein Cello, das durch seine fruchtige Note in den mittleren Bereich hinein schwingt, so sich für viele Fleischgerichte, Sauerkraut und Suppen eignet. Honig entspricht der sanft streichelnden Harfe, Kümmel der Klarinette mit ihrem warmen Holzton, die Nelke dem Xylophon usw.. Und wenn ein Gericht aus mehreren Gewürzen besteht, dann hat man ein Orchester von tief bis hoch schwingenden Aromen geschaffen. Stimmen die Gewürz-Klänge, dann ist der Sound eines herzhaften Gerichts perfekt. In seinem Umkehrschluss kreierte Roland Essl zu Johann Sebastin Bachs ‚Adagio‘ für Klavier Karamellisierte Pfirsiche mit Weinschaum und Erdbeeren, das er L’ame de Luisa nannte und der Konzertpianistin Luisa Imorde widmete. In der ‚Seele von Luisa‘ steckt die Fruchtigkeit des Pfirsichs, die Weichheit des sanften Tastenanschlags und der begleitende Weinschaum entspricht dem Piano. Essls Schlusswort gilt jedoch dem Hobbymetzger und das ultimativ letzte Rezept ist die Anleitung zur Brätherstellung.

Mit Alpenkulinarik ist dem Koch und Gastrosophen Roland Essl ein großer Wurf gelungen. Natürlich kommt auch ein Gaumenfreund nicht umhin, manchem Gericht eine besondere Essenz, seine persönliche Note einzuhauchen, seine Vorstellung vom Klang des Essens. So verfeinert er bspw. die Waldviertler Grammelknödel, indem er das griffige Mehl durch Stärke ersetzt und in die Fülle noch eine Extraportion Bauchspeck mengt. Und wer richtig hinhört, vernimmt beim Reinbeißen in den Knödel Klänge der Altblockflöte in F, weil akurat da die Muskatnuss ihr ganzes Potenzial entfaltet. Ich höre die Flötentöne nicht, dafür aber gerne Telemanns Tafelmusik beim Essen. Gewünscht hätte ich mir, dass der Autor seine Beiträge stärker auf das Alpenkulinarische fokusiere. Sich nicht allzu sehr verliere in der Historie mancher Lebensmittel sondern mehr regionales Wissen zu Speis und Trank einfließen ließe. Sehr effektvoll und gelungen sind die Foodfotos mit Seitenlicht, die, mit wenigen Ausnahmen, alle vom Autor stammen.

Beeindruckend einfach und wie eine lustige Maske in Szene gesetzt sind die Pinzgauer Topfennudeln, die für mich die Alpenkulinarik par excellence symbolisiseren, quasi Ausdruck einer Jung und Alt schmeckenden Speise. Aber vielleicht wecken Topfennudeln einfach glückliche Kindheitserinnerungen. Jedenfalls leuchten die Augen meiner Enkel, wenn die angezuckerten Topfennudeln auf dem Tisch stehen. Und derart Glücksgefühl auslösende Rezepte finden sich in diesem Kochbuch viele.

Am Schluss überlasse ich das Wort noch einmal Sepp Forcher: Profunde Kochausbildung und jahrelange Erfahrung als Koch und Wirt haben in Roland Essl ein Talent reifen lassen, das ihn befähigt, sein gründliches und umfangreiches Wissen über die alpenländische Küche in dem äußerst lesenswerten Kochbuch Alpenkulinarik zusammenzufassen. Das trifft es sehr gut.