Heute besuchen wir LONDON.
Genauer gesagt, die Northbanks an der Themse, früher eine Industriebrache im Nirgendwo. Dort richtete sich Ende der 1980er Jahre der Architekt Richard Rogers sein neues Büro ein. Er war bekannt geworden mit Bauwerken wie das Centre Pompidou in Paris oder der Europäische Gerichtshof in Straßburg oder das Three World Trade Center in New York. Viel weniger beachtet wurde die Kantine, die er entwarf und die im umgebauten Lagerhaus Thames Wharf, in der Rainville Road, eingerichtet wurde. Das Etablissement mit neun Tischen verköstigte ursprünglich ausschließlich hauseigene Architekten und Designer zur Mittagszeit. Die Betreiberinnen der Kantine, Rose Gray und Ruth Rogers, hatten die Erlaubnis, nur MitarbeiterInnen zu verköstigen. Das war 1987, also vor 35 Jahren, und der englische Amtsschimmel stand dem österreichischen in nichts nach, so scheint es. Jedenfalls erweiterten die beiden Wirtinnen step by step ihren Aktionsradius mit immer neuen Genehmigungen, bis endlich aus dem River Café ein Restaurant wurde. Rose und Ruth haben sich der italienischen Küche verpflichtet. Immer schon und bis heute, nur ist es heute eines der renommiertesten Restaurants in London. Damals war ihr Ansatz revolutionär. Eine unverfälschte italienische Regionalküche mit saisonalen Produkten war nicht leicht an die Kundschaft zu vermitteln. Zudem fanden einige Gäste manche Gerichte überteuert – für altes Brot und ein paar Tomaten war 3 Pfund fünfzig zu viel. Die Pappa al pomodoro, eine Florentiner Suppe mit Geschichte, gab es nur, wenn die Paradeiser reif waren, und sie kamen direkt von italienischen Märkten. Das Ideal der beiden Wirtinnen war keine absolute Spitzenküche, sondern die einfache ländliche Küche Italiens, die einer saisonal geprägten Cucina rustica. Ein hoher Anspruch, den sie bis heute beibehalten. In ihren Anfängen schwammen sie also gegen den Strom der etablierten Italianità Londons. Mittlerweile sind Saisonalität und handgemachte Pasta gängige Praxis guter Restaurants weltweit. Mit ihrer bodenständigen, vorwiegend norditalienischen Küche eroberten sich die beiden einen Sternenplatz. Zwei Autodidaktinnen, die so erfolgreich sind, dass viele bei ihnen eine Kochausbildung machen wollen. Einige wurden später berühmt, zum Beispiel Jaimie Oliver. Ihre Kocherfahrungen brachten Rose und Ruth in mehreren Kochbüchern zum Ausdruck. Nun wurden alle sechs bisher erschienenen River Café Bücher ins Deutsche übersetzt und in einem Kochbuch zusammengefasst. River Café – Alle Rezepte ist im Basler Echtzeit Verlag herausgekommen.
Gleich vorweg: Dieses über zwei Kilogramm schwere Konvolut mit über 900 Rezepten bietet einen guten Querschnitt der italienischen Küche und kann ruhig als kleines Standardwerk bezeichnet werden. Das River Café Kochbuch ist meines Erachtens dem Silberlöffel ebenbürtig, wie es auch den Vergleich mit Marcella Hazans klassische italienische Küche nicht fürchten muss. In 17 Kapiteln und einem speziellen: Was Sie über die Zutaten wissen sollten, erfährt man von vielen urigen, regionalen Gerichten, wie sie in den Dörfern dies- und jenseits des Apennin alltäglich gekocht werden.
Die Rezepte sind präzise und so kurz als möglich. Missverständliche oder zu wenig ausführliche Beschreibungen sind äußerst selten. Um ein Beispiel zu nennen: Beim Grundrezept für den Sauerteig, Lievito madre hätte man anmerken müssen, dass das Anfüttern immer weiter geht, also alle zwei Tage man 100 g Mehl und 4 Esslöffel Wasser zufügen muss. Und dass die Sauerteigmutter auch hungern kann, kaltgestellt im Kühlschrank. Aber das sind Marginalien im Verhältnis zum Gesamtwerk.
Gelegentlich finden sich im Vorspann persönliche Anmerkungen zu den Rezepten. Wie die Autorinnen sie erfahren haben, was sie bedeuten und anderes. Über Peposo – eine Kalbshaxe, 12 Stunden in Rotwein geschmort – erfahren wir, dass die River Café Belegschaft dieses Gericht bei einer Weinreise in der Toskana kennenlernte. Es war an einem kalten Novembertag und im Holzofen des Metzgers Dario Cecchini schmorten diese Fleischstücke still vor sich hin und verströmten – stelle ich mir vor – einen sagenhaften Duft. Jedenfalls wurden den Engländern der Schmortopf mit dicken Scheiben von ungesalzenem Toskanabrot aufgetischt, dazu ein Glas Chianti, während im Hintergrund Opernmusik erklang. Ein solches Rezept muss man einfach nachkochen, oder? Vorausgesetzt, Sie haben auch den Metzger, der Ihnen die 3 kg schwere Haxe in drei Teile schneidet und hackt, und sieben Freunde, die einen ordentlichen Hunger mitbringen. Hier bestätigte sich mir, dass italienisches Essen wie Musik sein kann, eine beeindruckende Erfahrung. Übrigens wurde über Peposo schon im 13. Jahrhundert berichtet. Für die Handwerker, die den Dom in Florenz bauten, wurde dieses Fleischgericht über Nacht in den abkühlenden Ziegelbrennöfen geschmort und am nächsten Tage mit den Ziegeln auf die Baustelle geschickt.
Ihren Erfolg führen Ruth und Rose vor allem auf die frischen Zutaten zurück. Sie verleihen den Gerichten den geerdeten, natürlichen Charakter; pur, würde Andreas Caminada dazu sagen. Auch für Ruths und Roses Gerichte spricht, dass die Zutatenliste meist überschaubar bleibt. Allerdings gibt es auch Ausnahmen mit über 15 Bestandteilen, etwa der Panettone oder Pan speziale, ein weihnachtlicher Gewürzkuchen aus Bologna. Für meine Theatergruppe Ohne Vorhang, backte ich eine Reihe von verschiedenen Zitronenkuchen aus diesem Kochbuch. Sie waren auch Requisite des Stückes ‘Pedro und Pedrito’ und wurden nach der Aufführung von der Truppe mit großem Vergnügen verzehrt. Die Crostata di limone schmeckte mir am besten. Kein Wunder, denn in dieser Zitronen-Tarte stecken neben sieben Bio-Zitronen, sechs ganze Eier und neun Eigelbe sowie 300 g Butter. Also nicht unbedingt eine leichte, aber dafür köstliche Versuchung. Für die Chocolate Oblivion, ein mehlfreier Schokoladekuchen, der auch zur Bekanntheit des River Cafés beitrug, werden 675 g Bitterschokolade verarbeitet. Dieser Kuchen enthält keinen Zucker, dafür feinste Bitterschokolade mit einem hohen Kakaoanteil.
Viele, wenn auch nicht alle Rezepte sind abgebildet. Blockweise. Unmittelbar nach jeder Kapiteleinleitung folgen mehrere Seiten Foodfotos, die dann von den Rezepten ergänzt werden.
Was man unbedingt lesen sollte, ist das Kapitel über die Zutaten (ab Seite 725). Das gibt einen Einblick auf das, was das Kochen im River Café so außergewöhnlich und jeden Tag anders macht: die Lebensmittel, mit denen dort gearbeitet wird. Wann sie Saison haben. Wie man ihre Qualität beurteilt. Wo man sie am besten einsetzt.
Nicht alles wird ausführlichst beschrieben. Über italienischen Honig hätte ich mir mehr zu erfahren gewünscht, dafür gab es ein paar sehr erfreuliche Kurzanleitungen. Creme fraiche selbst herzustellen, was ich sofort ausprobierte. Auch bleiben die Autorinnen bei manchen Gemüsen vage, gibt es keine genaue Sortenbezeichnung. Beispielsweise berichten sie von einer süßlichen Erbse, die es nur im Veneto gibt, ohne den Artnamen preiszugeben. Wahrscheinlich meinen sie Bisi di Lumignano, eine kleine, hellgrüne, feste Sorte, die den traditionellen Risotto der Region – Risi e bisi – beinahe in ein Dessert verwandelt. Das Risotto-Kapitel gehört neben Pasta und Gemüse zu den umfangreichsten. Hier kommt ihr Faible für die norditalienische Küche und das Glück zum Vorschein, das sie so umschreiben: Die ungefähr 20 Minuten, in denen sich Reis und ein paar Zutaten der Saison in einen herrlich cremigen Risotto verwandeln, gehören für uns zu den genussvollsten und befriedigendsten Erlebnissen beim Kochen. Und ich atme auf, da auch sie den ungewaschenen Reis in das soffritto einrühren, entgegen der meisten Zubereitungsvorschreibungen. In diesem Kapitel tut sich ein weites Feld an Entdeckungen auf. Risotto con latte ist wie Milchreis ohne Zucker, der mit Rohschinken serviert wird. Und der Risotto al salto erinnert mich an den goldenen persischen Reis, nur ist er nicht trocken, sondern behält einen Rest an Cremigkeit bei. Für beide Köchinnen ist Carnaroli das beste Rundkorn für Risotto, wie auch ich diese Kreuzung von Arborio mit einer japanischen Sorte sehr schätze. An den Pasta-Rezepten gefällt mir die elegante Schlichtheit der meisten Gerichte, die mit wenig Zutaten so viel Genuss erwirken.
Es gibt fast nichts, das nicht mit Nudeln kombinierbar ist. Von der Artischocke bis zu den Venusmuscheln und dem Weißkohl, alles vermählt sich mit der Pasta. Wer nach bestimmten Zutaten sucht, die zu Pastasaucen verkocht werden wollen, wird im Register fündig.
Das Buch ist aufgebaut wie ein Menüplan, eine Reihenfolge, in der man die Speisen servieren könnte. Einleitend werden Saucen und kleine Häppchen vorgestellt, wie auch am Ende noch Granitas, Sorbets, Eiscremes und Drinks nachgereicht werden. Hochgenuss garantieren die Kuchen und Desserts, denn nur so ist zu erklären, warum einige meiner Gäste in sanfter Entrücktheit die Feigen mit Mandelkruste (Fichi con crosta die mandorle) verzehrten. Aber auch bei all den servierten Zitronen-Tortas konnte ich dieses Einswerden mit dem Kuchen immer wieder beobachten.
River Café – Alle Rezepte präsentiert die italienische Küche in einer Ausführlichkeit, wie es nur wenige Kochbücher schaffen. Davon zeugt auch der viele Seiten umfassende alphabetische Index. Einziger Wermutstropfen ist das Fehlen der italienischen Bezeichnung der Gerichte.
Die meisten Rezepte sind alltagstauglich, auch schnell zuzubereiten. Saisonale, regionale Zutaten sind das Markenzeichen dieses Kochbuchs. Ideal wäre, zuerst in den Garten oder im Markt einkaufen gehen und dann ab nach Hause und kochen, so die Vorstellung der Autorinnen.
Dieser Wälzer von Kochbuch wird von mir gerne als Nachschlagewerk benutzt, um zu vergleichen oder Impulse zu erhalten, Neues auszuprobieren. Ich schöpfe aus den Kapiteln Pasta, Polenta, Brot, Pizza und und und immer wieder überraschende, tolle Rezeptideen. So auch die Zuppa di pane, eine Brotsuppe, die ohne sofritto auskommt, dafür aber Kartoffeln und anderes Gemüse enthält. Dann der Pizzateig, eine Mischung aus Roggen- und Weizenmehl, der sich zu einem fast durchscheinend dünnen Fladen ausrollen lässt. Oder die Pappa al pomodoro, sie verschmelzt Tomaten, Brot und Basilikum zu einem einzigen aromatischen Ganzen – ein kleines Wunder. Jetzt backe ich die Torta di limone e mele zum Geburtstag meines Sohnes Benjamin. Für diesen Zitronen-Apfel-Kuchen verwende ich Golden Delicius, 4 Stück. Aber das letzte Wort hat Ruth Rogers: Wir verkleiden nichts. Wir zeigen alles. Jedes Rezept in diesem Buch ist hier erprobt und in die Praxis umgesetzt worden.