Heute reisen wir nach AFGHANISTAN.
Reiseberichte liegen auf dem Tisch, von Bruce Chatwin, Nicolas Bouvier, Doris Lessing, Saira Shah, Roger Willemsen und anderen. Auf dem Cover der neueren Bücher sieht man fast immer Frauen in Ganzkörperschleiern, Panzerwracks und Reiterspiele. Es war einmal – oder nicht? beginnen afghanische Märchen. Es waren Hippies, Taliban und Warlords, Paschtunen, Tadschicken und turkmenische Nomaden, Kabul – das ist die Realität.
In der Buchara-Ebene, 600 Kilometer nördlich der Hauptstadt, wird Robert Byron vom Gouverneur-Stellvertreter der Provinz Maimana zu einem Essen in die Karawanserei eingeladen. In diesem Land der Fülle überkommt uns Wohlbehagen. Schüsseln mit Milch, Pilau mit Rosinen, Fleischspieße, gut gesalzen und gepfeffert, Pflaumenmarmelade und frisch gebackenes Brot werden vom Basar herbeigeschafft.* Das war 1934 und Afghanistan hat noch nicht viele solcher Eindringlinge erlebt. Vielmehr haben afghanische Flüchtlinge in den letzten 40 Jahren ihre Sehnsucht nach ihrem Heimatland in die Welt getragen.
1980 herrscht Krieg im Land und Sarghuna Sultanie verlässt mit ihrer Familie Afghanistan in aller Eile Richtung Europa. Die wichtigsten Dokumente und ein paar Erinnerungsstücke in einem kleinen Koffer. Die Naturwissenschaftlerin flieht nach Deutschland, wo sie promoviert hat. In einer Kleinstadt am Rhein findet sie eine neue Heimat. Wie bewahre ich meine Kultur? fragt sie sich und beginnt zu kochen. Für ihre Kinder, ihren Mann und Freunde kocht sie sich durch alle ihr überlieferten Rezepte mehrfach und feilt daran, bis sie perfekt sind. Als Chemikerin ist sie gewohnt, beiläufige in exakte Mengenangaben zu übersetzen. Die Mutter und afghanische Freunde wurden befragt und bald war ihre Rezepte-Sammlung auf über 100 afghanische Gerichte angewachsen. Der Dorling Kindersley Verlag hat nun die Rezepte und Geschichten aus Sarghunas Familienküche als Kochbuch herausgebracht. Mit Afghanische Küche tauchen wir ein in eine bunte, aromatische und vielfältige Länderküche, die einige Überraschungen bereithält.
In fünf Kapiteln nähert sich die Autorin ihrer Heimatküche an. Die Gerichte werden in Afghanistan üblicherweise in großen Schüsseln oder auf Platten angerichtet. Dementsprechend sind die Zugänge mehr Rezeptgruppierungen. Getränke, Brot und Chutneys werden zu besonderen Anlässen oder zum Nachmittagstee gereicht. Unter kleine Mahlzeiten, die als Auftakt eines Festmahls oder zusammen mit anderen Gerichten auf einer Tafel serviert werden, fallen Salate, Suppen und kleine Gerichte wie Teigtaschen mit Lauch, frittierte Kartoffelküchlein oder die Aprikosen mit pochiertem Ei. Letzteres lässt das Besondere der afghanischen Küche gut erkennen. Etwa die fruchtige Süße der Aprikosen, die mit Kurkuma und Pfeffer aromatisiert werden. Und man glaubt es kaum, angeschwitzte Zwiebeln sind Teil dieses leichten Essens. Ein Topf ohne Zwiebel ist wie eine Frau ohne Scham, lautet eine afghanische Volksweisheit und beschreibt damit den Charakter dieser Landesküche. Viele Gerichte beginnen mit dem Rösten einer Zwiebel. Die afghanische Küche ist eine langsame, geprägt von lange geschmorten Gerichten, die unter den Begriff ‚Qorme‘ zusammengefasst werden. Fleisch und Gemüse köcheln oft mehrere Stunden vor sich hin, werden mit landestypischen Gewürzen wie Kurkuma, Schwarzkümmel, Ingwer, Bockshornklee und anderen verfeinert. Sie bringen die warmen Aromen hinein. Kurz gebratenes Fleisch gibt es nicht, auch nicht als Hauptgericht, und wenn doch, dann als Beigabe. Tiere sind wertvoll und werden nur zu besonderen Anlässen geschlachtet. Traditionell sind Fleischspieße von mariniertem Lamm- wie auch Rindfleisch und Geflügel. Zusammen mit Tomaten, Zwiebeln und anderen Gemüsen wird das Fleisch aufgesteckt und über der Glut gegrillt. Diese werden dann meist auf afghanischem Fladenbrot serviert. Ein mit Schwarzkümmel oder Mohn bestreuter, hübsch dekorierter Hefeteigklassiker. Schwarzkümmel oder Nigella ist kein wichtiges Gewürz, dennoch sollte man ihn ausprobieren. Wie das Fladenbrot gemacht wird, zeigt Sarghuna in einer Bilderfolge. In den Bäckereien Afghanistans wird das Brot im Tandur gebacken. Das ist ein großer, im Boden eingelassener Tontopf, wobei der Fladen, an die heiße Wand geklatscht, schnell goldgelb gebacken ist. Mindestens genauso wichtig für die Mahlzeiten aber sind Chutneys und eingelegtes Gemüse. Für scharfe Auberginen-Pickles werden kleinste Eierfrüchtchen verwendet, die mit Cayennepffer scharf gemacht werden. Zum Ablöschen eignet sich Tee mit Milch und Kardamom. Nein, das habe ich so noch nicht ausprobiert. Dieser gewürzte Tee ist etwas Besonderes, auch weil Milch in Afghanistan so wertvoll ist. Wird er serviert, dann wird Gastfreundschaft zelebriert.
An heißen Tagen ist das Joghurtgetränk ein guter Durstlöscher. Joghurt, gemischt mit Wasser und Minze aromatisiert, ist ein Standardgetränk in vielen vorderasiatischen Ländern. Nur hier kommt noch eine Gurke rein, fein geraspelt.
Zu allen Mahlzeiten wird eingelegtes Gemüse gereicht. Kürbis-Pickles mit Chili, Korianderchutney oder eingelegte Backpflaumen sind der Beweis von der Vielfalt an Obst- und Gemüsesorten in diesem Landstrich. In Gläser gepackt halten sich die so präparierten Lebensmittel über einen längeren Zeitraum. Sie bringen Würze, Schärfe und Säure auf den Tisch.
Das Herz der afghanischen Küche aber sind Reisgerichte. Verwendet wird vorwiegend Basmatireis, neben Brot und Kartoffeln das wichtigste Grundnahrungsmittel. Kein Essen ohne Reis. Die Hackbällchen in Kurkuma-Tomaten-Sauce werden traditionell mit Reis serviert. Ich habe sie meinem Bruder Siggi mit Selleriepüree vorgesetzt. Lecker, lecker, war sein Kommentar. Nichtdestotrotz ist Reis in der afghanischen Küche eine ernste Sache. So ernst, dass die Zubereitung mit einer Step-by-Step-Anleitung vorgeführt wird. Wer die persische, aserbeidschanische oder indische Küche kennt, wird einige der Reisgerichte wiedererkennen. Für mich neu war Narenj Palau, das ist Basmatireis mit Pistazien und kandierter Orangenschale. Ein Gericht, das nicht nur farbenfrohe Zierde ist; die Zitrusaromen kombiniert mit Kardamom sind himmlisch. Manchmal erinnert mich das spielerische der afghanischen Küche an die georgische. Basmatireis mit Mungobohnen und Aprikosen, süßer Rundkornreis mit Bockshornklee oder Rundkornreis mit Lamm und Orange nehmen Anleihen aus aller Herren Länder, die an der Seidenstraße liegen. Sie führen regen Austausch in Sachen Kochkunst. Wundert man sich, dass in der Abteilung Süsses und Gebäck, Konfekt aus Milch und Mandeln, Halwa aus Griess oder Baklava vorgestellt werden. Baklava kenne ich mit dünnen Filoblättern, hier wird er mit Blätterteig gemacht und etwas weniger Zuckersirup. Der Milchreis mit Rosenwasser kam bei meinem Sohn Benjamin und meinem Enkel Jakob gut an, das heißt, ward innerhalb kürzester Zeit verputzt. Auch hier spielt Kardamom, wie in vielen Rezepten der afghanischen Küche, eine wichtige Rolle.
Jede Reise beginnt in der Erinnerung, behauptete Roger Willemsen. Für Sarghuna Sultanie sind es kulinarische Erinnerungen an die Heimat, die sie zu Papier brachte in Form von Rezepten. Sie lassen mit etwas Phantasie wunderschöne Landschaften und die kulturelle Vielfalt eines gebeutelten Landes vor dem inneren Auge auferstehen. Eine Vielfalt an Esskultur, die man Afghanistan nicht zugetraut hätte. Mit Afghanische Küche wird man geerdet. Hülsenfrüchte sind die Zutaten wärmender Eintopfgerichte. Eine Vielzahl an Obst und Gemüse, wie die Pflaume und der Kürbis, beleben Ragouts und Schmorgerichte. Kalbfleisch mit Sauerkirschen verbindet fruchtige Säure mit Fleischeslust in sinnlichem Rot. Interessanterweise findet sich keine Konfitüre oder Marmelade im Buch, aber drei Listen von Obst, Trockenfrüchten und Gemüsen, die das landwirtschaftliche Potenzial des Landes spiegeln. Die Gemüsesprache Afghanistans ist nicht knackig. Blumenkohl, Karotten, Bohnen und Co. werden nicht als reine Beilage serviert. Knackig ist das Gemüse nur, wenn es süßsauer einlegt wird. Gewürze wie Schwarzkümmel, Korianderblätter, Kurkuma und andere sind die eigentlichen Akteure im Hintergrund, feinfühlig und aromatisierend. Masale Deeg ist Sarghuna Sultanies Gewürzmischung für Reis, die aus Kardamom, Kreuzkümmel, schwarzer Pfeffer und echtem Zimt besteht. Überhaupt lässt die Autorin immer wieder Persönliches in Afghanische Küche einfließen, streicht das Familiäre heraus. Gemeinsames Kochen, gemeinsames Essen sind afghanisches Lebenselexier. Sichtbar gemacht in wunderbaren Bildern, die sowohl familiäre Aktivitäten, Küchenarbeiten als auch das Gekochte umfassen. Die afghanische Küche ist das Ergebnis vieler Einflüsse, das macht sie so wunderbar.
* Robert Byron, Der Weg nach Oxiana, Extradruck der Anderen Bibliothek, 2014, Seite 313