Heute reisen wir ins BALTIKUM.
Es ist eine abwechslungsreiche Reise durch Estland, Lettland und Litauen. Drei Länder, die häufig als Dreiergespann wahrgenommen werden, schön aufgefädelt auf einer Nord-Süd-Achse. Eine vermeintliche Einheitlichkeit, die aber nicht dem Selbstverständnis der Esten, Letten und Litauer entspricht, wenn auch die Entwicklungen in der Geschichte ähnlich verliefen. Die Mächtigen, ob Dänen, Schweden, Deutsche oder Russen, sie alle versuchten, sich die Ländereien am mare balticum einzuverleiben. Begehrlichkeiten, die tiefe Narben hinterlassen haben. Und es liegt erst 30 Jahre zurück, da führte die singende Revolution zur Unabhängigkeit des Baltikums. In der politischen Ausrichtung, in der Orientierung zum Westen hin, sind sich alle baltischen Staaten einig, wenn auch ihr Weg dort hin variiert. Kleine Unterschiede sind es, die den Charakter dieser drei Nationen ausmachen. Größer sind die Differenzen in den landestypischen Kochstilen, auch wenn sich vieles in der baltischen Küche wieder vereint. Einer Küchentradition, zu der sich der Koch, Fotograf und Journalist Simon Bajada hingezogen fühlt. „Honig aus dem reinsten Nektar, Sauermilchprodukte, Schwarzbrot, Mohn- und Hanfsamen, Kümmel und Kohl … das sind einige der vielen Zutaten“, die Bajada zu einer kulinarischen Forschungs- und Entdeckerreise in Die Baltische Küche inspirierten.
Einleitend bemerkt der Autor, dass seine einzige Beziehung zu den baltischen Ländern eine alte litauische Tante ist, die ihm unvergessliche Kindheitsgerichte serviert hat. Nun ist Litauen die westlichste der drei Nationen. Historisch bedingt – so auch in der Küche -, finden sich dort vor allem deutsche, englische und französische Einflüsse wieder. Die Hauptstadt Vilnius wurde das Jerusalem des Nordens genannt. Und welche Überraschung: Die frühesten Restaurants eröffneten aschkenasische Juden! Das soll aber nicht darüber hinweg täuschen, dass in der baltischen Küche eine sehr ländliche Küchentradition vorherrscht. Bäuerliche Produkte aus Milch sowie Gemüse, Getreide, Fleisch und Fisch stehen hoch im Kurs. Die Lebensmittelmärkte sind voller lokaler und saisonaler Produkte. Sie prägen die Essgewohnheiten der baltischen Gesellschaften. Und sie bestimmen den Kapitel-Aufbau des Kochbuchs. An erster Stelle stehen also Milchprodukte. Hier verwundert, dass die Balten überwiegend Sauermilchprodukte konsumieren. Unsere homogenisierte Milch mit 3,6 % Fettanteil wird in baltischen Breiten ‚süße‘ Milch genannt und heute noch auf Märkten aus Milchkannen literweise abgeschöpft und verkauft. Neben Milch besitzt auch der Frischkäse in der baltischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Das zweite Kapitel gehört den Fischen, d.h. den Gerichten aus Meerforelle, Scholle, Kabeljau, Makrele, Heringe, Hecht, Sprotten und Aale. Ob konserviert oder frisch zubereitet, Fische aus der Ostsee und den Binnengewässern sind beliebt. Vielfach mit lokalen Kräutern, in Dillbrühe, mit einer Sellerie-Remoulade auf Sauerteigbrot oder mit Pastinakenpüree angerichtet, kommt Fisch wie wir sehen, selten ohne Beilagen aus dem Gemüsegarten aus. Womit wir umstandslos ins dritte Kapitel einbiegen, uns hingeben den Erträgen aus Wildwuchs und ordentlich gepflegten Gärten. Hier geben sich Brennnesseln, Pilze, Erbsen, Gurken und viel anderes Grünzeug ein Stelldichein. Dem Garten folgt dann der Bauernhof, der wiederum – irgendwie logisch – vom Backwaren-Kapitel abgelöst wird. Fast nahtlos geht es dann über ins ‚Süße‘, und wir landen letztlich bei den Getränken. Zwar ist in den baltischen Ländern das Bier überaus populär, aber meinen Gaumen schmeicheln Drinks wie Rhabarber-Kissel, Kwass oder ein verdünnter Quittensirup, die hier geboten werden, doch mehr als der Gerstensaft. Den Schlusspunkt setzt ein ausführliches Register, das wenig Wünsche offen lässt. Im Gegenteil. Kaum schweifen die Augen über die alphabetisch geordneten Einträge, weiten sich die Pupillen ob der vielen unbekannten Gerichte, die so vielversprechend klingen. Apfelsuppe mit Eiweißschnee und Körnerbrot, Capelinei, Kama-Pudding mit Birnen in Met und Leinsamenkrokant, Gurken mit Honig, Schweinerostbraten mit geschmortem Rotkohl und Buchweizen, Milcheis mit Heidelbeeren und Haselnüssen usw. Aber auch Bekanntes, wie die Piroggen, die in Lettland unseren halbmondförmigen Nussbeugeln ähneln. Lange galten sie als Gericht für besondere Anlässe, aber auch ohne diese sind die mit geräuchertem Speck gefüllten Piroggen ein wahres Festmahl. Und so tauchen wir ein und erfahren eine unbekannte Welt, wie sie auch Zara im Roman Fegefeuer von Sofi Oksanen erlebt hat, als sie auf dem Hof der Großmutter stand. „Das Muster des Tischtuchs, das Gesummse der Fliegen. Das Abschöpfen des Schaums beim Einwecken … Im Schrank die Gläser mit Tomaten und Pilzen, auf dem Boden die Kräuter, ausgebreitet zum Trocknen, der Geruch heißer Johannisbeeren und warmer Milch“ in der Luft. Hier, wie auch in Bajadas Baltischer Küche entfaltet sich ein Kosmos der Häuslichkeit, kommt heimelige Stimmung auf. Dazu tragen viel die Fotos bei. Eindrucksvolle Schnappschüsse von Menschen, Städten und Landschaften sowie Foodaufnahmen, die quasi den Vorgeschmack des zu erwartenden Genusses abbilden.
Einiges habe ich ausprobiert.
Eine Spezialität im Osten des baltischen Meeres, im alten Memelland, sind die Zeppelinai oder Cepelinai. So genannt, weil diese länglich geformten Kartoffelteigtaschen an einen Zeppelin erinnern. Die Füllung besteht aus Rinder-Schweinehackfleisch und Pilzen.
Gehaltvoll und saftig, wenn sie rechtzeitig aus dem Ofen genommen werden, sind die kleinen Roggen-Karotten-Tarteletts. Ein Gebäck, das, sogar auf Grabwänden der Ägypter abgebildet, in dieser Konstellation aber eindeutig jüngeren Datums ist. Mit saurer Sahne serviert, sind die Tarteletts, auf die ich weiter unten noch einmal eingehen werde, ein kulinarisches Vergnügen.
Die Kalte Rote-Bete-Suppe, nicht mit Kefir sondern mit Buttermilch angerichtet, ist eigentlich für heiße Tage vorgesehen. Nachdem aber in diesen Frühjahrstagen die Temperaturen überdurchschnittlich hoch sind, ist diese kalte Suppe zusammen mit auf Holzspießen aufgezogenen jungen Kartoffeln genau das Richtige. Und das Farbenspiel … nun, es ergriff alle bei Tische, ließ sie verstummen und ohne Worte die Suppe löffeln. Ein Wohlgefühl verbreitete sich und ließ mich staunend zurück.
Eine leichte Mahlzeit, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, ist Baltischer Hering mit Kartoffeln und Hanfsamen. Letzterer ähnelt äußerlich dem Couscous, hat einen hohen Gehalt an Omega-3-Fettsäuren, ist also wirklich gesund. Wegen des Samens muss sich niemand sorgen, man wird davon nicht high. Wohl aber verführt dieses Essen zu hemmungslosem Zugreifen, wenn man nicht aufpasst. Ob das die Kombination von Fisch mit Kartoffeln, die hartgekochten Eier oder die Marinade mit Heidelbeeren verursacht, ich weiß es nicht. Jedenfalls schmeckt es phantastisch.
Eine interessante Kombination ist auch Lamm mit Bier und Honig. Zusammen mit den Chicoree-Blättern als Beilage eröffnet sich hier ein wahrer Geschmacksreigen.
Der Kartoffelauflauf, in Litauen auch Kugelis genannt, lässt wegen seiner Namensgleichheit auf gemeinsame Wurzeln mit dem jüdischen Nationalgericht Kartoffelkugel schließen. Das mag stimmen, nur werden in Bajadas Rezept Speck und Milch zusammen gegart und das geht in der strengen koscheren Küche überhaupt nicht. Aber man kann ja auch den Speck weglassen, will man es unbedingt aschkenasisch. Übrigens ist dieser Kartoffelauflauf ein kleines Wunderwerk. Er kann als Vorspeise oder Beilage (ohne Speck) zu Fleisch dienen. Mit geriebenen Kartoffeln wird die Konsistenz besser und das Aroma feiner. In Holland kommen auch Käse und Kraut in diesen Kartoffelauflauf. Zu Zeiten vor der Kartoffel wurden anstelle der Knollen Pastinaken oder Rüben verwendet. Sie sehen, der litauische Kartoffelauflauf lässt sich beliebig variieren. Servieren Sie dazu einen Becher Milch und Sie fühlen sich nach Vilnius versetzt.
Die Baltische Küche von Simon Bajada ist ein wunderbarer Mix alter und neuer Rezepte. Mit ihnen tauchen wir ein in eine Drei-Staaten-Küche, die im Spannungsfeld zwischen traditionell und modern liegt, was nicht immer eindeutig ist. Warum? Zum Beispiel hat Bajada erfreulicherweise Sklandrausi, ein altes livisches Gericht, aufgenommen. Roggenteig, Kartoffelpüree, geriebene Karotten, etwas Zucker und saure Sahne sind das Geheimnis dieser lettischen Spezialität. Es sind die schon erwähnten Tartelettes. Die wurden früher viel auf Festen etwa zur Mittsommersonnenwende gegessen. Heute sind sie einerseits anthropologisch motiviert, Teil des nationalen Pflichtbewusstseins, und dann, ökonomisch argumentiert, marketingstrategische Schmankerln für die Touristen. Allerdings, die Sklandrausis wurden von der EU als garantiert traditionelle Spezialität ausgelobt und unter Schutz gestellt, das ist schon was Besonderes, aber beißen Sie erst mal rein … ob heiß oder kalt, mit oder ohne Milch oder Sauermilch, klassisch herzhaft oder süß, die Törtchen sind ein Hammer. Wie auch die Gestaltung dieses Kochbuchs. Der intensiv himmelblaue Buchschnitt und vor allem das kräftige Cover-Rot, sind die tonangebenden Farben, wie sie es auch bei den baltischen Trachten sind. Und wenn wir als weitere Dimension die Aromen mit einbeziehen, dann zunächst mit einer Frage: Wie riecht es in den baltischen Küchen entlang des Meeres? In jeder Jahreszeit ein bisschen anders, schreibt die lettische Köchin Sandra Osina im Vorwort. Ein bisschen nach Wald, Feldern, Meer, Flüssen und Seen, nach Gärten und Bauernhöfen. Ein bisschen salzig wegen des Windes, der vom Meer herüber weht, wegen der Fischernetze und Bojen. Ein bisschen verwirrend nach Wald, Pilzen, Minze, wildem Thymian, süßem Waldmeister … (Aber), Geschmack kann nicht beschrieben oder aufgeschrieben werden, also kommen Sie und schmecken Sie selbst!
Bei mir gibt es heute Brennnessel-Pastinaken-Suppe und dazu Gerstenbrot mit feinporiger Krume und betörendem Kümmelgeschmack.