Heute reisen wir in die VERGANGENHEIT.
Weit zurück, in eine Zeit, von der so jeder und jede eine eigene Vorstellung hat. Auch Gerhard Polt, der bekannte „I hob lang nit gwusst, i hob wirkli nit gwusst, wie weit dass Geschichte zrückgeht. Hast es du gwusst, I net. Na wenn ma sogt, abr jietz hearts obr auf … Geschichte geht no weitr zruck …“ Dabei bewegt sich der bekannte Bayer im kabarettistischen Gestern. Wir wollen weiter zurück, in eine Zeit zwischen 4300 und 800 vor Christus. Das ist die Zeit der Pfahlbauer, eine jungsteinzeitliche Gesellschaft die vor allem den nördlichen Saum des Alpenhauptkamms besiedelte. 111 Fundstellen zählen zum UNESCO Welterbe und sind bestens erforscht. Es gibt also viele Daten und viele Fundobjekte, auch von Dingen, die man selbst in den Museen nicht so leicht zu sehen bekommt. Bspw. Nuss-Schalen, Samen, Spelzen, sogar Fisch-Schuppen, Insektenreste und Parasiten-Eier. Funde von der so genannten Kulturschicht, aus denen sich das Leben damals rekonstruieren lässt. Ein Schweizer Archäologenteam arbeitet seit Jahren diesen Warenkorb der Pfahlbauer auf. Sie formen und gestalten nach; anhand der Fund-Informationen lassen sich Erkenntnisse ableiten, wie sich die Pfahlbauer damals ernährten. Mehr noch: Die Forscher kreieren eine Esskultur mit Zutaten, die den Pfahlbauern zugänglich waren. Keine Diät und kein Ernährungsprogramm, sondern potenzielle, archaische Pfahlbauküche. Ihre Rezepte haben sie nun in Buchform herausgebracht. PalaFitFood, so der Titel, ist im Gmeiner Verlag erschienen. Anzumerken ist, dass alle Rezepte von den HerausgeberInnen selbst erfunden sind und nicht von Wilma oder Barney Geröllheimer.
Nach einer sehr ausführlichen Einführung über Grundsätzliches zur Pfahlbauküche folgen 12 Kapitel, die aus verschiedenen Blickwinkeln die Esskultur mit Rezepten beleuchten. Frei nach dem Motto: Wissenschaft geht durch den Magen. Dem Leitgedanken, Wie könnten die Menüs der Pfahlbauleute ausgesehen haben? tragen die AutorInnen Rechnung, indem sie zum thematischen Zugang auch eine zeitliche Ebene hinzufügen. Die Reihenfolge der Kapitel ist dem Jahreszyklus untergeordnet, beginnt im Spätwinter, der vom Vorfrühling abgelöst wird usw. und endet im Mittwinter. Da geht es um Das tägliche Brot, Die Milch-Saison, um Die Bronzezeit, Fruits de lac, also Fische und mehr, ums Jagen und Sammeln, Das besondere Aroma, Völlerei und Hunger, um einige dieser Zugänge aufzuzählen. Jedes dieser Kapitel wird von einem sehr informativen Text eingeleitet. Der Frühsommer lässt die Bronzezeit wiedererstehen, die für die Menschheitsgeschichte eine Zäsur darstellt. Das Pferd wird eingeführt, auch der Pflug setzt sich durch – beides schlägt sich in der Produktivität nieder. Die Palette der angebauten Nutzpflanzen verdoppelt sich. Hülsenfrüchte sind das Superfood dieser Epoche. Hirse steht heute nur selten auf den Speiseplan. Bei Ihnen auch? In Afrika ist Hirse Teil der Alltagsküche. In Europa verwendeten die Kelten dieses Spelzgetreide zur Bierherstellung. Und die Archäologen servieren Blattsalat mit Hirsewrap. Pikanterweise mit Blättern von Buche, Hasel und Wildkirsche, Zutaten, die wir erst sammeln müssen. Die Hirselinsen mit geschmortem Ochsenschwanz könnten auch vom Dorfwirt angeboten werden, sofern er sich von den PalaFitFood-Spezialisten inspirieren lässt. Zum Nachtisch gibt es Erdbeertörtchen mit Holunderblütencrème, die mit selbstgemachter Crème fraiche verfeinert wird. Allerdings muss dafür dann mehr Zeit veranschlagt werden, denn das Eindicken der Buttermilch braucht einen halben Tag bis zwei Tage. Aber wir haben jetzt Hochsommer – noch, und das Wasser ist bei den Pfahlbauten allgegenwärtig, wie auch das Fischen im Flachwasser. Fische des Uferbereichs wie Hecht und Karpfenartige, dazu zählen Schleien und Rotaugen, füllten die Kochtöpfe aus Ton. Aber nicht nur. Frochschenkel, das Fleisch der Sumpfschildkröte, Biber, Schwäne und Enten bereicherten die Alltagsküche und wohl auch die Fettreserven der Pfahlbauern. Abwechslung bringen Wasserpflanzen. Eine Besonderheit die Wassernuss, die damals eine wichtige Nahrungsgrundlage bildete und heute – fast ausgestorben – streng geschützt ist. Sie wird ausführlich vorgestellt in der Rubrik Pflanze des Monats. D, h., in jedem Kapitel wird jeweils eine Pflanze vorgestellt, die in der Ernährung der Pfahlbaukultur eine wichtige Rolle spielte. Von der Schlehenbeere über Einkorn, Mohn bis zum weißen Gänsefuß reicht das Angebot und dokumentiert die breite Fülle des Speiseplans. Jetzt im Hochsommer wird falsche Schildkrötenpastete angeboten. Weil Schildkrötenfleisch ähnlich wie Rind und ihre Leber wie Kalbsleber schmeckt, wird die Pastete mit diesen Zutaten gefüllt sowie mit Morcheln und Kräutern. Wer aber lieber Fisch mag, dem sei der Steckerlfisch mit Fladenbrot à l’Opera angeraten. Lachsartige wie das Felchen oder die Renke eignen sich gut. Das Fladenbrotrezept beruht auf den Analysen eines verkohlten Brötchens aus der Grabung beim Parkhaus Opéra in Zürich. Ein Wahnsinn, die Vorstellung, ein Brot zu backen, wie es bereits in der Jungsteinzeit gegessen wurde. Im Kapitel Das tägliche Brot erfährt man mehr über Getreide und seine Verarbeitung, das Backen ohne Hefe. Interessanterweise kannten die Pfahlbauer die Hefe nicht, verwendeten als Backtriebmittel Pottasche und Hirschhornsalz.
Wenn der Wassernuss-Linsen-Eintopf uns wieder an die Feuerstelle der Pfahlbauern führen soll, dann mit dem Eingeständnis, dass die Wassernuss durch Edelkastanien ersetzt wird. Anleihen kamen vom römischen Gourmande Apicius, der ein Linsen-Kastanien Gericht beschrieb. Ich aber versuchte die Ente mit Brombeersoße, d.h. überraschte so meinen Bruder, der Ur-und Frühgeschichte studiert hat, damit. Wir diskutierten nicht sehr viel, denn dazu hatte uns die Ente mit der köstliche Brombeersoße zu sehr in Beschlag genommen. Als Wildgemüsebeilage werden die Keimlinge des Ackerrettich angeführt, wohl allgemein bekannter unter Hederich.
Mit PalaFitFood haben sich drei Ur- und Frühgeschichtlerinnen und ein provinzialrömischer Archäologe wohl einen Lebenstraum erfüllt, nämlich den Geschmack der Pfahlbauküche ins Heute zu transferieren. Trial and error mag hier Pate gestanden haben, das Ergebnis aber lässt sich sehen, wohl besser, gut munden. Schade und ein Wermutstropfen ist das Fehlen eines ausführlichen Schlagwortregisters, das die Rezeptsuche sehr erleichtern würde. Vieles gibt es in diesem Kochbuch zu entdecken und nachzubauen. Die Pfahlbau-Pizza mit einem Erdbeerbelag anstelle der Tomaten ist wohl auch eine geschmackliche Herausforderung. Aber das Wildschwein mit Holunderbeeren oder die Rehzunge auf Erbsenmus oder die Mohnschnecken oder die Schlehen-Pastinaken-Plätzchen sind notiert und warten darauf, einer illustren Gästeschar serviert zu werden. Dass die Macherinnen keine Kostverächter sind, zeigt die Bandbreite vom Getreide-Haselnuss-Kaffee bis zum geschmorten Schweinekopf mit Blutfladenbrot, hier wird nichts ausgelassen, was nicht schon vor 6000 Jahren in den menschlichen Bauch wanderte. So gesehen ist PalaFitFood nicht nur ein Kochbuch, sondern auch Geschichte, Menschheitsgeschichte, spannend aufbereitet. Die Gerichte sind anschaulich beschrieben. Die Gestaltung erfreut durch lebendige und informative Fotos und zwischengestreuten liebevollen Illustrationen sowie mehrfarbigen Textblöcken, bspw. sind die Zutaten immer in Rot. Wer sich auf das PalaFitFood Kochbuch einlässt, erlebt jungsteinzeitliche Esskultur im Heute.