Heute reisen wir nach BERLIN.
Olafur Karason ist der fiktive Volksdichter und Erzähler in dem Roman ‚Weltlicht‘ des isländischen Nobelpreisträgers Halldór Laxness. Er verfasst für seine Landsleute Nachrufe, Liebes-, Jawort-, Hochzeits- und Geburtstagsgedichte, ist eingebunden im Kreislauf des Lebens. Seine Landsleute brauchen ihn ebenso, wie er sie braucht. Aber er ist auch von der Schönheit der isländischen Natur fasziniert und so hin- und hergerissen zwischen klischeehaft romantischer und dezidiert politischer Kunst. Karason ähnlich und dennoch anders ist Olafur Eliasson, der derzeit wohl bekannteste Künstler Berlins mit dänisch-isländischen Wurzeln. Seine Installationen sind Aufsehen erregend. Vier beeindruckende Wasserfälle am East River in New York, eine begehbare Endlostreppe in Form einer Doppelhelix im Atrium eines Münchner Bürohauses, eine riesige Sonne in der Tate Modern in London, die über zwei Millionen Besucher ins Museum lockt. Eliasson bringt die Kunst dorthin, wo die Menschen sind, macht Kunst für alle. Und darin sind sich Karason und Eliasson gleich: Sie definieren ihre Kunst über den Anderen, mehr noch, sie benötigen ein Gegenüber, das sie sichtbar macht. Olafur Eliasson verändert einen unwirtlichen Raum zu einem einladenden Ort. Mit den Mitarbeitern seines Berliner Studios – das er gerne als eine „Realität produzierende Maschine“ sieht – entwickelt und produziert er Kunstwerke und Ausstellungen. Es ist eine gefräßige Maschine, die gefüttert werden will. Und so wird für die Studio-Crew von der hausinternen Küche täglich ein vegetarisches Mittagessen zubereitet, mit Produkten aus eigenem Anbau. Jeden Mittag strömen etwa 90 Personen in die Küche. An einer über 12 Meter langen Tafel sitzend, essen sie gemeinsam und unterhalten sich, fast wie in einer Familie. Dieses kollektive Essen ist identitätsstiftend, die Studio-Küche ein Ort der Begegnung, des Austauschs von Ideen. Und es wäre nicht Olafur Eliasson, würde er nicht ein Projekt daraus machen. Mit entstanden ist eine Publikation, die Dokumentation und Kochbuch in einem ist. Das Buch, das auf deutsch im Knesebeck Verlag erschienen ist, heißt: The Kitchen. Darin wird Nahrung als fundamentaler Teil des menschlichen Lebens thematisiert. „Essen bedeutet immer, auch im Wortsinn, eine innere Erfahrung, und all diese Erfahrungen sind tief in unserem Alltag verwurzelt – als gefühltes Wissen“, schreibt Eliasson in der Einleitung. Daraus ergibt sich eine Kernfrage: Wie nehmen solche inneren Erfahrungen äußerliche Gestalt an? Tja, dazu muss man einen Blick in das Koch- und Kunstbuch werfen. Mattes Papier, sehr viele Schwarz-Weiß-Abbildungen mit punktuell farbigen Hervorhebungen, von Essen, vollen Tafeln, Menschen beim Essen, Diskutieren, Projekte Umsetzen. Sparsame Zeichnungen, eher Entwürfe vom menschlichen Verdauungstrakt, Pflanzen, Samenkörner und Zellen, Gastkommentare, Projekt- und Aktionenbeschreibungen sowie eine Menge Rezepte vervollständigen das Werk. Den konzeptuellen Rahmen bilden die Planetenbahnen, sie spiegeln sich in den Kapiteln wider.
Das erste Kapitel beginnt im Studio, das ist die Küche und Essens-Tafel als Ort der Zusammenkunft und Inspiration. Dort wird – quasi das Leitmotiv – überlegt, wie Gefühle in Handlungen umgesetzt werden können. In Dialogen und Foodexperimenten etwa. Und so wurde eine Reihe von Gerichten serviert, die Rückschlüsse auf die Wahrnehmung von Raum und Zeit ermöglicht, immer im Kontext zum Essen. Bspw. wurden Geschmacksgruppen isoliert und die Teilnehmer aufgefordert, die einzelnen Geschmäcker zeichnerisch umzusetzen. Dieses erste Kapitel vermittelt einen sehr schönen Überblick über die unterschiedlichsten Ansätze der KünstlerInnen und Köchinnen, wie Essen rezipiert werden kann: über die Farbe der Nahrungsmittel, übers Hören auf den Körper, über die Haut als überdimensionale Zunge, über den Fermentierungsprozess von der Aufnahme bis zur Ausscheidung usw. Sehr schön ist das Beispiel mit den Lunchpaketen. Da geht es um die Erfahrung, wie sich das Essen an unterschiedlichen Orten der Stadt Berlin auf die Konsumenten auswirkt. Die Lunch-Gläser waren gefüllt mit Eingelegten Eiern, Kartoffelkroketten, Tomaten-Chili- Sauce und anderem. Der Weg der Nahrung wurde in Form von Food-Mile-Maps an den Wänden des Studios, das gleichzeitig ein Institut für Raumexperimente ist, und auf einem Flugblatt visualisiert.
Die weiteren Kapitel führen bildlich gesprochen von den äußersten Planeten zum Zentrum. In folgender Reihenfolge widmen sich die Kapitel nach dem Studio dem Körper, den Pflanzen, den Samen, den Mikroorganismen, der DNS und den Mineralien. Sie werden von einem achten, alles umfassenden Kapitel, dem Universum, umschlossen. Den Kapiteln vorangestellt sind meist kurze Texte, die nicht immer einfach und verständlich, rational und klar sind. Sie beschreiben das Thema bzw. das damit verbundene Projekt. Hier vermischen sich Theorie und These und künstlerischer Interpretationsspielraum zu Impulsen, die uns NutzerInnen dieses Kochbuchs zum Nachdenken anregen. Über Nahrung, die ein fundamentaler Teil unseres Lebens ist.
Viel Platz nehmen in diesem Kochbuch natürlich die Rezepte ein. Grob unterteilt sind es in erster Linie Alltagsrezepte, die für das gemeinsame Mahl gekocht werden, und spezielle Gerichte, die für die einzelnen Projekte entwickelt wurden, wie das bereits erwähnte Lunchpaket. Die meisten Rezepte stammen allerdings von den zwei Chefköchinnen Lauren Maurer und Asako Iwama. Hier finden sich lokale, saisonale und internationale Gerichte, die zum Teil aus Kochbüchern oder von Gastköchen übernommen wurden. Die Mengenangaben beziehen sich auf 4 bis 8 bzw. – und das ist sehr lustig – 60 Esser. Das Kochduo versteht die Essenszubereitung als eine kontinuierliche Verwandlung, die auch eine spirituelle Dimension beinhaltet. Am ehesten nachvollziehbar, für mich, drückt sich das im Mineralien-Kapitel aus. Und zwar mit jenen Rezepten, die dem Compassion (Mitgefühl-)Workshop zugeordnet sind. Da gibt es bspw. einen schlichten braunen Reis, eine Rote Bohnenpaste aus Adzukibohnen – schmeckt wunderbar mit Schlagsahne – oder zu Sojamilch-Gelee mit braunem Sirup.
Auch ausprobiert habe ich die herzhaften Scones, die etwas weniger geknetet wahrscheinlich luftiger werden. Die Penne mit Ingwer und Tomaten enthalten 150 g Ingwer auf 400 g Nudeln, was für mein Geschmacksgefühl zu viel ist. Als ich den Ingwer präventiv auf die Hälfte reduzierte, ergab dieses Nudelgericht ein schnelles und sättigendes Mittagessen. Ein feines Gericht ist Sri-lankisches Blumenkohl-Sambal, das mit Reis serviert in meinem Gaumen die wunderbaren Aromen Südostasiens tanzen ließ. Bestens gemundet hat auch der Möhrenkuchen oder auf gut österreichisch Karottenkuchen. Der war so gut, dass er in Nullkommanix fertig war. Deshalb hinterlege ich Ihnen das Rezept im Ordner, sodass Sie nicht auf die Idee kommen, sich bei mir auf einen Karottenkuchen einzuladen.
International wie die MitarbeiterInnen des Studio Olafur Eliasson sind die Gerichte, die täglich auf der langen Tafel serviert werden. Viele davon – etwas über 100 Rezepte – sind in The Kitchen abgedruckt. Die meisten ganzseitig abgelichtet, wie sie tellerfertig serviert werden. Zu einigen Rezepten gibt es auch Fotostrecken von der Zubereitung bis zum Verzehren der Speisen. Wunderbar fügen sich die Abbildungen in das höchst kunstvoll gestaltete Kochbuch ein, verstärken die Wirkung des Designs.
Interessant auch ist die Auswahl der Speisen. Die sind stärker romanisch (italienisch und französisch) bzw. südostasiatisch ausgerichtet, was wohl mit dem Küchenteam zusammenhängt. Auch sehr exotisch anmutende Gerichte finden sich darunter, wie bspw. Klette mit Sesam, das von Gastkoch Egon Hanfstingl im Studio serviert wurde. Dabei wird hier die Klettenwurzel, eine Korbblütlergattung, verarbeitet. Kletten kennen wir aus Kindheitstagen, jene Samen, die sich an Hundefell und Kleidung heften. Sie stehen hier für Erdung. Damit schließt sich ein Kreis, dessen Schlüssel, wie Eliasson es ausdrückt, im Bewusstsein des Wechselseitig-aufeinander-angewiesen-Seins liegt.
Und am Ende stellt sich die Frage: Essen die Künstler des Studio Olafur Eliasson anders? Eindeutig Nein würde ich behaupten. Aber möglicherweise gesünder, es gibt fast nur vegetarische Kost und wahrscheinlich essen sie reflektierter. Vielleicht haben sie es auch lustiger, wenn ihnen etwa aus Experimentierfreude blaues oder oranges Essen serviert wird.
Eliassons Studio ist nichts anderes als ein Raumexperiment, ein Labor wie die Küche. Daraus ging ein ungewöhnliches Kochbuch hervor, verspielt, kreativ, künstlerisch und inspirierend, das dazu einlädt, auch andere Gedanken neben der Zutatenliste zuzulassen und das Gekochte gemeinsam aufzuessen. The Kitchen ist ein anspruchvoll gestaltetes Künstler-Koch-Buch, das – um es mit Alice Waters Worten zu sagen – nicht nur ein Gespür für die Schönheit der einfachsten Dinge entwickeln lässt, sondern auch so etwas wie Fürsorge für die Mitmenschen. Sehr human-ökologisch.