Heute reisen wir in die SCHWEIZ.
Mit der Schweiz verbinden wir in erster Linie Vorstellungen von Wohlstand, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Engstirnigkeit. Das alles vereinigt der Bünzli – der Paradeschweizer – in sich. Eine geistig unbewegliche, kleinkariert denkende und ausgeprägt gesellschaftskonforme Person, so wird sie jedenfalls in wikipedia beschrieben. Aber es gibt auch andere Schweizer und Schweizerinnen, und so war denn auch der überwiegende Teil derer, die ich kennenlernte, bescheidene, liebenswürdige, herzliche EidgenossInnen voller Engagement. Dazu gehören wohl auch Katharina Sinniger und Tine Giacobbo. Sie führten in Zürich 22 Jahre lang die ‚Alpenrose‘, einen Gourmettempel der besonderen Art. Die Mengen, die in der Alpenrose verkocht wurden, sind unvorstellbar. Für Kartoffelstock, d.h. Kartoffelpüree wurden in der Saison 600 kg Kartoffel geschält. Tagtäglich wurde Pizokel gemacht, eine Graubündner Beilage, vergleichbar mit Spätzle, in Gewichtsmenge ausgedrückt waren das 19.690 kg. Für diverse Kuchen, Crepes und all jene Speisen, die mit Eiern zuzubereiten sind, wurden im Laufe der Jahre weit über 100.000 Eier verbraten, verbacken und verkocht. Die Person, die diese aufgelisteten Mengen federführend mit- und verarbeitet hat, ist Tine Giacobbo. Gelernt hat sie bereits bei ihrer Mutter Berta, ihrem großen Kochvorbild. Später, nach Wanderjahren, hat Tine bei Peter Brunner die Kochlehre absolviert und bei René Zimmermann gekocht, einem Vorreiter der regionalen Küche. Viele Jahre später, als Berta die Alpenrose besucht und Siedfleisch bestellt hat, wird sie ihrer Tochter attestieren: „Ja, kochen kannst du.“ Jetzt haben sie zugesperrt und Tine ihr Vermächtnis in Form eines Kochbuchs hinterlassen. Jetzt müsst ihr selber kochen so der Titel, ist im Echtzeit Verlag erschienen und enthält 536 Rezepte.
Und wir, die nie in der Alpenrose gegessen haben, bekommen so zumindest einen Ahnung von den herrlichen Gerichten, die dort serviert wurden.
Aufgebaut ist das ganze Werk alphabetisch. Am Anfang also A wie Anfang mit dem Hinweis, dass die Gesamtausgabe der Rezepte von Tine dieser Ordnung folgt. Es beginnt also mit den Aargauer Suure Mocke, einem Braten und der muss 3 Tage kühl gestellt werden. Das beginnt ja gut, denkt sich jeder schnell genervte Kochneuling. Aber wir bleiben cool. Alpenrose ist dann auch das zweite Schlagwort. Und das ist schon allein deshalb lesenswert, weil es eine schöne Stimmungsbeschreibung eines Gasthauses ist und vor allem uns die Kochbuchautorin näher bringt. Es ist der einzige Gastbeitrag, fast schon ein Vorwort und von Christoph Seiler. Dann geht es weiter mit Amarettoparfait aus dem Tessin, Anetzerli, Aniskuchen, Apfelblootz und noch weiteren 500 Rezepten bzw. Stichworten. Letztere sind eine Mischung aus lexikalischer Beschreibungen spezieller Zutaten wie Butter, Ei, Fisch, Geflügel bis Zwiebel sowie Begrifflichkeiten. Auf die Zutaten legt die Autorin besonderen Wert, sind sie doch das 1×1 des Kochens. Und unter Begriffe fällt alles mögliche von Braten, über Dank, Glossar bis Wissenswertes, aber auch Vorwort, das richtige, das sich dann weit hinten auf Seite 212 natürlich unter V einfindet. Und es empfiehlt sich, das als Erstes zu lesen. Ein Manifest, ein Bekenntnis handfester Küchenpraxis. Ein Kochbuch für jeden Tag, für jede Gelegenheit, für jede und jeden, der oder die Freude daran hat, ehrlich und schmackhaft zu kochen. Das ist die Intention der Autorin. Ein klassisches Kochbuch, das Schweizer Küche mit saisonalen und landestypischen Produkten zelebriert. Eine Küche also, die vorwiegend vom alpinen Raum geprägt ist mit Anleihen aus dem mediterranen und romanischen, aber auch aus Südwestdeutschland. Dafür stehen etwa die italienische Fritatta, hier mit Olivenöl und Rahm angereichert, das nicht so trocken wie das italienische Original ausfällt. Auf die Baden-Württembergische Kochtradition zurückführen lassen sich Speisen, die mit Blootz oder Wehe enden, in der Regel süße und herzhafte Kuchen aus Hefeteig. Der Apfelblootz mit einfachen Apfelspalten ist ohne Schwierigkeiten zu backen und schmeckt allen, wie auch die Apfelwähe mit geraffelten Äpfeln, die mit noch weniger Aufwand zuzubereiten ist. Es finden sich noch mehr Apfelrezepte von herzhaft bis süss. Die Apfeltarte probierte ich auch, ohne das Rezept vorher zu Ende zu lesen. Und so hatte ich im ersten Anlauf 2/3 der Teigmenge übrig und beherzigte Tines Vorschlag, mit dem Rest des Teiges am nächsten Tag nochmals Kuchen zu backen. Es gilt also auch hier das alte Pumucklgesetz, zuerst das Rezept zu Ende lesen und dann mit dem Kochen beginnen. Übrigens hatte die Tarte allen wunderbar gemundet – auch meinen lieben Nachbarn.
Die alphabetische Ordnung ist anfänglich gewöhnungsbedürftig. Man findet nicht alles dort, wo man es zu stehen wähnt. So sind Ziegenkäsegerichte nicht unter Z, sondern unter G, wie Geissen zu finden. Oder wer ein Greyerzerkäs-Gericht sucht, wird dieses nicht unter Greyerzer finden oder unter dem Stichwort Käse, wo zehn Rezepte gelistet sind. Nein, dieses äußerst schmackhafte, schnelle Pastagericht ist unter Glarner Ziegerhörnli abgelegt. Da werden die Schattenseiten des alphabetischen Ordnungssystems schlagartig sichtbar. Dennoch hat dieses System etwas für sich. Schnell wird mir klar, dass mit dem langsamen Durchblättern und Verweilen und Springen zu Querverweisen sich das Kochbuch fast spielerisch erschließt. Es braucht Zeit. Dafür bekommt man Ideen; mitunter tut sich völlig Neues auf wie auf einer Entdeckerfahrt. Der Kartoffelauflauf aus der Waadt ist so eine Neuentdeckung. Kartoffel mit Äpfeln herausgebacken, wunderbar. Ich kochte es meiner Frau, ohne Zimt; es war ein feiner Abend. Uns beiden gelang es nicht, das Geschmackserlebnis umfassend zu beschreiben, nur soweit, dass es etwas Besonderes war. Damit Sie unsere aromatischen Erlebnisse nachfühlen können, erfahren Sie am Ende das Rezept.
Tine Giacobbo ist eine hervorragende Köchin, mit vielen Interessen und Vorlieben. Braten, Kartoffeln, Quitten und Greyerzerkäse, um vier zu nennen. Aber auch weniger geläufige Zutaten wie „Erbsli“, Hagebutte, Herz, verlorenes Landei sind Teile ihrer kulinarischen Welt. Und das macht dieses Kochbuch auch zu etwas Einmaligem. Und wenn Sie glauben, aha, das kenn ich doch, wie bspw. die Pavlova, den berühmten Baissertraum, so macht Tine doch noch was Neues daraus. Meringues Pavlova, die ideale Resteverwertung übriggebliebener Eiweiße, die nach dem Backen auf dem Backblech wie Vanilleeiskugeln aussehen. Damit nicht genug, sie verweist auf Angelo Rime im Greyerzerland, der die Meringue im Holzofen backt – unschlagbar. Aber das ist eine andere Geschichte.
Jetzt müsst ihr selber kochen ist ein sehr persönliches Kochbuch. Am Ende werden in einem Fotoblock viele tellerfertige Gerichte in der Draufsicht gezeigt. Wie in einer Galerie wird Speise an Speise gereiht. Schnörkellose Abbildungen, das letzte Aufgebot der Alpenrose – stelle ich mir vor -, tafelfertig serviert. Einfach schön. Tines Kochbuch ist ein ungewöhnlich gewöhnliches Kochbuch, jenseits der Schicki-Micki-Küche. Mit Alltagsrezepten, die ausgefallen, abartig, herausordernd neu und bekannt sind; mit zwei Worten: feinste Alltagsküche. Jetzt müsst ihr selber kochen gehört zur obersten Kochbuchliga. Fast schon ein Standardwerk.
Nachsatz: Tines Kochbuch ist aus meinem Küchenalltag nicht mehr wegzudenken.