Simon Schlachter, GIPFELGENUSS

Meine Allgäuer Küche

Mit Texten von Antje Urban
Fotos von Vivi D’Angelo, Paul Meyer, Andre Schönherr und Monika Unterladstätter
Südwest Verlag, München, 2022, 256 Seiten, 37.10 Euro
ISBN 978-3-517-10190-3
Vorgekostet

Heute reisen wir in den ALLGÄU.

In eine sanfte Hügellandschaft im Südwesten Deutschlands, die stark geprägt ist von landwirtschaftlicher Nutzung. Felder und Obsthaine, dazwischen schnuckelige Dörfer, die eine gewisse Gemächlichkeit ausstrahlen. Wie Wellen branden immer höher auftürmende hügelige Erhebungen südwärts gegen den Alpenkamm. Bei Pfronten, direkt an der Grenze zu Österreich, steht einsam auf 1268 Meter die hochmittelalterliche Burgruine Falkenstein. König Ludwig II. wollte sie zu einem Mausoleum ausbauen, aber das Geld reichte nicht. Heute ist diese denkmalgeschützte Feste im Besitz der Familie Schlachter, die quasi nebenan das Burghotel Falkenstein führt. Bereits in dritter Generation mit dem sehr jungen Chef Simon, einem ausgebildeten Koch und Küchenmeister. Sein Weg führte ihn durch die besten Küchen Europas. Sterneköche pflastern Simons Weg, darunter Ali Güngörmüs und Andreas Caminada, um zwei zu nennen. Wundert sich jemand, dass heute auf dem Falkenstein das höchstgelegene Sternerestaurant Deutschlands ist? 2019 wurde umgebaut und das Restaurant Pavo eröffnet. Im Namen steckt der blaue Pfau, auch das Wappentier König Ludwigs. Während im normalen Burgrestaurant Alltagsküche vorwiegt, können sich die jungen Wilden im Pavo austoben und vieles ausprobieren. Das heißt, auf diesem Berg gibt es zwei Restaurants in einem Haus mit einer Küche und einer relativ jungen Küchenbrigade, die alle Tische bedient. Simon Schlachter ist 30 Jahre jung und höchst ambitioniert, der gastronomischen Welt seinen Stempel aufzudrücken. In den Coronajahren kam zum eingeschränkten Gastrobetrieb die Idee für ein Kochbuch auf. Bevor wir lange rumhocken im Corona-Wahnsinn, sammeln wir unsere besten Rezepte und erzählen unsere Geschichten dazu. So entstand Gipfelgenuss, ein Kochbuch mit 80 Rezepten und vielen Erzählungen, in deren Zentrum die Familie und der Standort stehen. Für die Rezepte ist Simon zuständig, die Texte stammen von der Gastrojournalistin Antje Urban.

In drei Kapiteln – Familie, Lieblinge und Pavo – vermitteln die Protagonisten kulinarische Kost zum Nachbauen. Aber nicht nur. Im Familienkapitel erfährt man zunächst, wie sich die ehemalige Jausenstation zu einem Burgtempel mauserte. Für das leibliche Wohl sorgen kleine Gerichte wie Vitello tonnato, geschmorte Auberginen mit wilden Brokkoli, eine Maronencremesuppe usw.. Gefallen hat mir die rote Linsencremesuppe, die mit Dim Sum, den asiatischen Teigtaschen, erst vollständig ist. Hier zeigt sich bereits die Einstellung des Autors, bodenständig und weltoffen zu kochen, wie er im Vorwort anmerkte. Das Kaninchen im Speckmantel mit Krautfleckerl, Flower Sprouts und Steinpilzen ist klassische deutsche Küche. Problemlos lässt sich das Hasentier bspw. durch Reh ersetzen. Die gesunde Note bringt Flower Sprouts ein, ein Minikohl mit leicht nussigem Geschmack. Hier vereint sich Traditionelles mit Neuem. Die Allgäuer Käsespätzle sind dann auch nicht weit weg. Simons Interpretation zeichnet sich durch zweierlei Zwiebelzugaben aus, die einmal geröstet und auch geschmolzen werden. Natürlich liegen die Röstzwiebel obenauf. Mit Buchteln und Vanillesauce zwinkert Simon der böhmischen Küche zu. Entgegen der klassischen Marillenmarmeladefüllung setzt er auf Nougat. Und die Vanillesauce? Die ist deutsch-italienisch, werfe ich salopp ein: mit viel Sahne und viel Eigelb. Der Kaiserschmarren ist alpines Urgestein geworden und wahrscheinlich der Sonntagsausflügler im Alpenvorland liebste Speise. Der Schmarren gehört, wie die anderen angeführten Rezepte, mittlerweile zum Standard der ostalpinen Esskultur. Dazu könnte man auch den Heidelbeerstreusel zählen, eins von drei Kuchenrezepten. Die Anleitung ist im Rezeptordner hinterlegt. Aber auch an der Tarte au citron und der weißen Schokoladentarte werden Schleckermäuler nicht vorbeikommen. Für die Baisertupfer des Zitronenkuchens ist eine ruhige Hand von Vorteil; die kleinen Eiweißspitze bezaubern Klein und Groß.

Das Lieblinge-Kapitel wird mit einem Sinnspruch eröffnet: Das Allgäu berührt die Seele, heißt es, und wer einmal da war, kommt wieder oder bleibt. Und was fällt dem Koch dazu Kulinarisches ein? Pochierte Eier mit Guacamole und Röstbrotchips, auch Egg Benedict, Chicken meets asia sowie grüne Gazpacho mit Apfel-Dill-Sorbet, Gurkensalat und Spargelspitzen. Dieser Abschnitt öffnet sich hin zur internationalen Küche. Anlehnungen aus Mexiko, Südostasien und Spanien. Überhaupt nimmt die asiatische Küche in Simon Schlachters Schaffen breiten Raum ein. Das hängt wohl mit seiner mehrmonatigen Reise durch Thailand, Kambodscha, Vietnam und anderen Asienstaaten zusammen, in welchen er auch Kochkurse absolvierte. Das schlägt sich in Rezepten wie King fish, Dumplings oder Thunfisch-Sashimi nieder.

Ab dem dritten, dem Pavo-Kapitel, steckt Simon Schlachter seinen eigenen Küchenkurs aus. Er nabelt sich ab von Vaters Kochtöpfen, zeigt, was Berge, Tradition und Familie an Kochinspiration auslöst. Ab hier gibt es Sternenküche – mit Bodenhaftung, wie Simon behauptet. The royal egg, ein auf Bergheu gebetttetes goldenes Ei, ist vielleicht eine Anspielung auf das Gulden Eifeesten im belgischen Kruishotem. Jedenfalls erinnert mich das königliche Ei an Peter Goossens goldenes Ei, das zu Ehren dieses Volksfestes kreiert wurde. Spannend die Feststellung, wie unterschiedlich zwei sich äußerlich so ähnelnde Gerichte gebaut sind. Während Peter die goldene Eihülle mit Schinkensülze, Comté- und Eigelbcreme befüllt, versteckt Simon in den goldenen Eierschälchen Erbsencreme, pochierte Wachteleier, Nussbutter-Emulsion und Kartoffel-Espuma. Besonders gefallen hat mir aber der sanft gegarte Saibling, der in einem Blumenkohlpüree dümpelt. Ein modernisierter Klassiker eines bei 60 Grad Celsius sanft gegarten Fisches mit angedeutet glasiger Konsistenz. Fast schon kinderleicht und überschaubar an Zutaten ist die Maishähnchenbrust , die von Topinambur – knusprig, glaciert und cremig – begleitet wird. Zum gebratenen Rehrücken werden Schupfnudeln gereicht, die bei Simon Milchgnocchi heißen. Zugegeben, die Fingernudeln sind den italienischen Nocken ähnlich, besonders gschmackig werden sie durch die Beigabe von Parmesan, Thymian und Rosmarin. Wunderbar finde ich auch das kleine Zwischenkapitel Brot & Butter, das einige schöne Rezeptetipps enthält. Focaccia bzw. englische Muffins mit luftiger Limonenbutter bestrichen oder einzutauchen in einen Kürbis-Hummus-Dip bieten sich als Zwischenmahlzeiten oder Amuse-Gueule an. 

Auf den letzten Seiten findet sich dann eine Auswahl an Grundrezepten, die sich in salzig und süß aufteilen. Die Nussbutter-Emulsion, eingelegten roten Zwiebeln oder Senfkörner, das Kartoffelstroh, Rhabarbergel, die Milch-Chips und eingelegten Birnen, um einige zu nennen, werden für Simon Schlatters Gerichte immer wieder gebraucht. Schade, dass es hier keine Seitenverweise zu den entsprechenden Rezepten gibt. Vergessen anzugeben wurde die Fruchtmenge für die eingelegten Birnen. Ich versuchte es mit 1 Kilogramm vom Kernobst, ein Drittel weniger braunen Zucker und keinen Rum. Das Ergebnis: die Birnen überlebten nicht lange in der Vorratskammer.

Gipfelgenuss von Simon Schlachter enthält sowohl einfache als auch anspruchsvolle Gerichte. Das beschränkt sich nicht nur auf kochtechnisches Geschick, sondern zeigt sich auch im breiten Spektrum der verwendeten Zutaten. So finden sich in seinen Gerichten  mitunter ausgefallenere Lebensmittel und exotische Gewürze wie Tapiokamehl, Kaffirlimettenblätter oder Edamekerne bzw. Raz el Hanout oder Xanthan. Da wäre ein Glossar bzw. Ersatztipps hilfreich. Gewünscht hätte ich mir auch, ein wenig über Simons Gedanken zu seinen kulinarischen Kreationen zu erfahren. Die Rezepte sind völlig auf die Anleitung reduziert. Der Untertitel Meine Allgäuer Küche ist leicht irreführend, denn das Allgäu kommt eher rudimentär vor, bezieht sich vor allem auf das Possessivpronomen ‚mein‘. Viel Essen um die Berge, trifft die Intention Simons am ehesten, die auch seine Küche auszeichnet. Sehr schöne Landschaftsaufnahmen wie auch kunstvolle Foodfotos, ergänzt mit inspirierenden Texten über diverse Glücksmomente, bereichern dieses Kochbuch ungemein, lassen mich die Zeit darüber vergessen. Jetzt muss ich mich losreißen, die Kürbiscremesuppe will ausprobiert werden. Die Erwartungshaltung meiner Gäste ist hoch, weil sie erfahren haben, dass der karamellisierte Kürbis mit Apfelsaft, Orangensaft und Kokosmilch verfeinert wird, und sie sich nicht vorstellen können, wie das schmeckt. Sie mundete allen.

Wer sich auf Simon Schlachters Gipfelgenüsse einlässt, kann einige kulinarische Überraschungen erleben. Mit etwas Phantasie und offenen Aroma-Sinnen ist die Allgäuer Küche à la Simon wunderbar nachzubauen.