Christian Rach, Susanne Walter, DEUTSCHE KÜCHE

170 Rezepte aus ganz Deutschland

Foodfotos von Kathrin Koschitzki
Südwest Verlag, München, 2023, 416 Seiten, 59,00 Euro [D] | 60.70 Euro [AT]
ISBN 978-­3-517-­10219-­1
Vorgekostet

Heute reisen wir durch DEUTSCHLAND.

Kehren ein in Gaststätten, Restaurants und Privathaushalten auf der Suche nach der deutschen Küche. Gibt es die überhaupt? Man könnte meinen, ja, nachdem die Grundprodukte, die in deutschen Landen, zwischen dem nördlichen Alpenhauptkamm und der Nord- und Ostsee, zur Verfügung stehen, identisch sind; mit einigen wenigen Ausnahmen. Welche typischen Gerichte in den einzelnen Regionen sich entwickelten, hing ab von der Qualität der Böden, vom sozialen Status quo und von den Einflüssen, die die Nachbarländer ausübten.

In seiner Einleitung zu deutschen Küchenklassikern stellt sich Christian Rach die Frage: Was wäre Deutschland ohne seine Brotkultur, ohne Gerichte aus Kohl oder seine vielfältigen Wurst- und Schinkenspezialitäten, ohne Schnitzel und Schwein, ohne Spargel, Kartoffel oder unsere Liebe zu Butter und Milchprodukten? und antwortet mit eben diesem 416 Seiten dicken Konvolut an Rezepten. Das ziegelschwere Paket ist unter dem einfachen Titel DEUTSCHE KÜCHE im Südwest Verlag erschienen. Es ist ein persönlicher Versuch, traditionelle Kochanleitungen in die moderne Küchenwelt zu transferieren. Kein geringer Anspruch, aber machbar, zumal die bewährte Foodstylistin und Rezeptentwicklerin Susanne Walter als Co-Autorin mit an Bord ist.

Den Zugang, den Rach und Walter wählten, ist unabhängig von den Jahreszeitenzyklen oder der klassischen Kochbucheinteilung nach Vorspeise, Hauptgang und Nachtisch. Sie orientieren sich an Produktgruppen, die alle kennen, die sie um zwei weitere Sparten erweitern. Der DDR- und jüdischen-Küche sind eigene Kapitel gewidmet. Die anderen elf spannen den Bogen von Butter, Käse, Quark über Gurken, Kürbis, Zucchini bis zu den Früchten. Oberflächlich betrachtet, sind es wesentlich mehr vegetarische Rezepte als die aus den Abteilungen Wassergetier und Fleischiges. Denn viele Rezepte enthalten Komponenten aus verschiedenen Produktgruppen. Bspw. das Lammkarree auf Bohnen-Paprika-Salat oder die Zucchinisuppe mit geräucherter Forelle oder die Lorbeerkartoffeln mit geschmorter Rehschulter.

Denk ich an Deutschland, dann fällt mir die Dichte an Brotläden in den Städten ein. Über 3.000 Brotsorten enthält das Sortiment – unvorstellbar. Das Kapitel Brot und Kuchen ist relativ weit hinten angesiedelt, unbewusst also doch einem strukturellen Zwang unterlegen, wie es scheint. In der Kapiteleinführung wird die Vielfalt gewürdigt und das Verschwinden des Bäckerhandwerks an der schweren körperlichen Arbeit, dem frühen Aufstehen und der schlechten Bezahlung festgemacht. Und Rach plädiert für die Bereitschaft, mehr zu bezahlen für handwerklich produziertes Backwerk. Ein Ansinnen, das meines Erachtens zu kurz greift, da das industriell gefertigte zu billig und nachhaltiges Produzieren von Lebensmitteln kein Thema unserer Gesellschaft ist. 

Es findet sich in diesem Kochbuch kein klassisches Brotrezept, dafür eine Handvoll origineller Tipps im Kontext von Brot-, Brötchen und Kuchenrezepturen, die man zu Hause gut herstellen kann. Dazu zählen die Kartoffelbrötchen im Wirsingblatt mit ihrem außergewöhnlichen Aussehen. Auch die Käse-Sauerkraut-Krapfen entbehren nicht des Charms von Windbeuteln, tolles Fingerfood, das gut zu Wein oder Bier passt. Unbedingt ausprobieren sollte man den Zwiebelkuchen, ein Verschnitt aus Pissaladière und Zwiebelwähe, ohne Anchovis, dafür mit artig aus dem Schmandbelag blickenden Zwiebelrosetten. Einfach herzustellen und des Applaus’ der Gäste sicher. Erwähnen sollte ich noch den Brotpudding, der zu den typische Resteverwertern zählt und für mehr  Nachhaltigkeit plädiert. 

In der Früchteabteilung treffen wir auf einen alten Bekannten, den Holunderblütensirup, der hier mit Limetten und Ingwer verfeinert sowie der milderen Weinsteinsäure haltbar gemacht wird. Der äußerst beliebte Sirup ist in dieser Variante etwas zeitgeistiger. In weiterer Folge entführen uns die Rote Grütze dann in den Norden und die Zwetschgenknödel in den Südosten Deutschlands. Die Mehlspeise hat ihren Ursprung in Österreich-Ungarn und kann entweder mit Kartoffel- oder Topfenteig gemacht werden.

Apropos Topfen, das ist das österreichische Wort für Quark. Und mehr Rezepte dazu finden sich im ersten Kapitel, das die Produktgruppe Butter, Käse und Quark umfasst. Hier stoße ich auf die Tecklenburger Buttermilchsuppe , die mit Orangenabrieb mehr Aroma bekommt und durch den Sahne- und Joghurtanteil sämiger wird. An heißen Tagen ist die gekühlte Suppe sehr erfrischend. Der Obatzda ist ein Kniefall vor den Bayern und auf jedem Wiesenfest ein Renner. Dazu eine Laugenbrezn und a Maß Bier und die Gaudi ist perfekt, aber pass obacht, nicht dass der Gerhard Polt mit seinem Spezi Adi dortn ist. In diesem Fall ist es gescheiter, das Wiesenfest nach Hause zu verlegen, der Obatzde ist schnell zubereitet, darf vor seinem Auftritt noch ein paar Stunden rasten. Rach verfeinert diesen bayrischen Biergartensnack mit einem Apfel und Schuss Calvados. 

Dem Spargel wie auch der Kartoffel ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Klar bekommt der weiße Spargel mit Sauce Hollandaise seinen Ehrenplatz. Aber der rohe Spargel mit geflämmtem Lachs oder der wilde Spargel mit Kalbsröllchen schauen verdammt gut aus und sind vorgemerkt im Kalender für 2024.

Sehr ungewöhnlich ist die Kombination Schnippelbohnensuppe mit Zwetschgenkuchen, nicht nur als Farbkontrast, sondern auch als Geschmackserlebnis. Rach bestreut den Teig mit Semmelbröseln, bevor die Zwetschgen ziegelartig aufgelegt werden. Das verhindert das Durchweichen des Teiges und außerdem bleiben die Zwetschgen schön saftig nach dem Backen. Statt der Bröseln könnte man auch Mandelmehl nehmen. 

Bei den dreierlei Mairübchen musste ich unwillkürlich an Goethe denken. Nein, es ist nicht das Mairübchen des Geheimrats Lieblingswurzel, sondern das Teltower Rübchen. Thomas Mann verdanken wir diese kleine Geschichte: Das Gewicht, das Goethe auf gutes Essen und Trinken legte, die Verstimmung und Kränkung, die er empfand, wenn er sich in dieser Beziehung vernachlässigt sah, gehören zu diesem humoristischen Bild von Bürgerlichkeit, wie denn die Tatsache, dass Zeltner ihn regelmäßig mit dem besonders bevorzugten Wurzelgemüse versorgte. Die zwei anderen Rezepte mit Wurzelgemüse hätten wahrscheinlich dem Dichterfürsten auch gemundet. Einmal ist es Kohl und Wurzel aus dem Ofen mit Kurkuma-Hollandaise und dann gesottenes Rindfleisch mit Wurzelgemüse und Meerrettich, die unsere kulinarischen Interessen wecken.

Bemerkenswert, dass der Küche der neuen Bundesländer ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Die Autoren verstehen ihre Auseinandersetzung mit der Küche Ostdeutschlands als Würdigung der Wiedervereinigung. Es sind Alltagsgerichte, die sich aus der Mangelsituation heraus entwickelten. Birnen und Klumpen , Letscho und Soljanka haben den kulinarischen Sozialismus überlebt und sich eingeordnet in den Kanon deutscher Kochtradition. Wie auch die Kugel mit Mohn und Blaubeeren sowie andere Rezepte aus der jüdischen Tradition heraus sich integriert haben und ihren Platz in der Deutschen Küche wieder behaupten.

DEUTSCHE KÜCHE von Christian Rach und Susanne Walter ist eine zeitgemäße Anpassung vieler tradierter Rezepte an heutige Kochvorstellungen. Man merkt, dass beide große Erfahrung damit haben. Schade ist, dass Rach und Walter kein Wort über den Entwicklungsprozess, ihre Gedanken zu den modernisierten Rezepten verlieren. Auch ist die Rezeptauswahl dieses Buches höchst subjektiv. Und kleine Enttäuschungen vorprogrammiert. Mir fehlt der Reibekuchen – oder habe ich den übersehen? Den Apfelstrudel mit Vanillesauce hätte ich der Wiener und Böhmischen Küche zugeschrieben und eher weggelassen. Aber insgesamt vermitteln die vorgestellten Rezeptvorschläge einen guten Querschnitt deutscher Kochkultur. Dazu gesellen sich stimmungsvolle Bilder von Land und Leuten am Anfang und Ende des Kochbuches inklusive perfekt abgelichteter Speisen. Jetzt gilt es, die notierten Rezepte auszuprobieren, das wird spannend.