Heute reisen wir nach INDIEN.
Wenn wir, Indien von oben betrachtend, die Umrisse nachzeichnen, so kristallisiert sich vor unseren Augen ein nettes Amöbentierchen heraus. Allerdings fehlt diesem Indienvergleich die Einheitlichkeit des Einzellers. Im Gegenteil, Indien bietet fast alle Klimazonen der Erde. Die Südspitze reicht fast bis zum extrem heißen Äquator und der Norden verspricht mit den Ausläufern des Himalaya extreme Eiseskälte. Dementsprechend sind auch die Alltagsgewohnheiten der Inder bereits so unterschiedlich, dass von den Indern und dem Indien nicht die Rede sein kann. Sehr schön lassen sich diese Unterschiede am Essen festmachen. Die Küche Südindiens ist eine ganz andere als die von Nordindien. Und das ist auch historisch bedingt. Vor über 400 Jahren brachten die Moguln die üppige persische Küche ins bergige Nordindien, ein Einfluss, der sich heute noch in den Speisen auswirkt. Lamm und Geflügel mit cremigen Saucen, Currys, die raffiniert gewürzt sind, usw.. Überwiegend vegetarisch ist dagegen das Essen in den südlichen Provinzen, vor allem wegen der vorwiegend tamilischen Bevölkerung. Brennend scharf wegen des beliebten Chili, die Saucen eher dünn, fast suppenähnlich, sehr populär die Iddlys, gedämpfte Grieskuchen, oft als Beilage zu den Currygerichten gereicht. Weitere Einflüsse kamen von China, aus Südostasien, von den Portugiesen, den Engländern usw. Und das wirkte sich aus bis in die einfachste Küche, dem allgegenwärtigen Streetfood-Essen. Streetfood macht vielleicht sogar den wichtigsten Teil der indischen Esskultur aus. Fasziniert vom schnellen Zubereiten, von der Frische der Zutaten und selbst langjährige Konsumentin indischer Straßenküche, hat sich Chetna Makan aufgemacht, einige dieser mündlich tradierten Speisen aufzuzeichnen. In vier Megacyties besuchte sie die besten Streetfoodstände, probierte, sprach mit den KöchInnen und wählte davon die 100 authentischsten Rezepte für ihr neuestes Kochbuch, India Street Food, aus. Es sind Rezepte aus Delhi, Kolkata, Mumbai und Chennai. Diese vier größten Städte Indiens repräsentieren im gewissen Sinne auch die vier Eckpunkte des Landes und sie bieten unverwechselbar köstliche Gerichte auf Streetfood-Niveau. Das heißt neben schnell und frisch vor allem einfache Gerichte, die es aber in sich haben.
Typischerweise besteht ein einfaches indisches Essen aus ein oder zwei Currys, dazu meist Reis und einem Gemüsegericht – mit Currysauce, als Salat oder aus getrockneten Hülsenfrüchten. Dazu werden Pickles oder Chutneys gereicht, vielleicht auch ein Topfengericht und Brot. Das garantiert auch den ärmsten Haushalten eine ausgewogene Kost aus Kohlehydrate, Proteine und Fett. Eben das bietet indisches Streetfood und es ist billig.
Makan beginnt ihre Entdeckungstour im Süden in Chennai, wo ihr als Erstes die bunten Kleider der Menschen auffallen. Aber wenige Zeilen später ist sie eingefangen von den feinen , dezenten Aromen der Straßenküchen. Vor allem schätzt sie, dass die Straßenköche und -köchinnen offensichtlich mit wenigen Zutaten und Gewürzen chennaitypische Speisen kreieren, deren geschmackliche Vielfalt nur staunen lässt. Allerdings nimmt man sich dort auch mehr Zeit für die perfekte Zubereitung. Und einige der besten Chutneys Indiens stammen aus dem heißen Süden. In Kalkutta – diese Wahnsinnsstadt mit Verkehrschaos und einer wunderschönen alten Architektur – mit vor allem bengalischen Wurzeln, werden die Gerichte vorwiegend auf einem Tablett, thali, angeboten. Chetna behauptet sogar, dass das Streetfood dort eine eigene Seele hat. Da ist was Wahres dran. Spätestens wenn Sie Mung Dal mit Cashewkernen ausprobiert haben, werden Sie dieser Behauptung wenig entgegenzusetzen haben. Über Mumbais Streetfoodgerichte erfahre ich, dass lokale und regionale sich mit chinesischen Esstraditionen vermischt haben, es so zu Neuinterpretationen via Straßenküche kam. Auch finden sich Spuren der Portugiesen in der westindischen Kochkultur. Auffällig ist auch der intensive Ghee-Gebrauch, ausgelassene Butter kommt fast überall hinein. Und das Pav Bhaji, ein Kartoffelgericht mit extra viel Butter zubereitet, erinnert mich an alpenländische Kochzustände. Aber es schmeckt hervorragend.
Ausprobiert habe ich auch Sambar, ein Standardgericht auf Chennais Straßen. Die dafür notwendige Sambar Gewürzmischung ist im letzten Kapitel des Kochbuchs angeführt, bei den Chutneys und Masalas. Dort finden sich viele Chutneys, wie Tomaten-Dattel-, Tamarinden- oder Kokos-Chutney, die zuzubereiten viel Spaß machen, wie auch ihr Einsatz sich nicht nur auf indische Straßengerichte beschränken muss. Ein ausführliches Register lässt kaum Fragen offen. Allerdings hätte ich mir ein Glossar gewünscht für manche Zutaten, wie Atta Mehl oder Ajowan, die nicht allgemein bekannt sind und auch nicht unbedingt leicht erhältlich.
Anlässlich eines ausgiebigeren Frühstücks tischte ich meinen Gästen Poha auf, das sie nicht kannten. Im Nu war das flockige Reisgericht „verputzt“ und das Staunen groß, als sie erfuhren, dass es sich um ein indisches Straßenessen handelt. Den Hähncheneintopf aus Kalkutta schätze ich wegen der unkomplizierten Zubereitung und weil er einfach fantastisch schmeckt. Natürlich wird auf Indiens Straßen auch Süßes angeboten. Falooda, eine Mischung aus Eis und Milchshake, war bspw. eine dieser köstlichen Überraschungen wie auch das Mango Lassi mit richtiger Mangofrucht und Kardamom zubereitet. Ein Klassiker der indischen Küche ist Mung Dal mit Cashewnüssen. Wobei Dal für Gerichte mit Hülsenfrüchte steht. Ich habe Mung Dal mit Reis zu einem frittierten Fisch serviert, so wie es die Autorin vorschlägt; es schmeckte vorzüglich. Frischer Koriander mit Kreuzkümmel und Ingwer verliehen der fast schon suppenartigen Beilage einen unvergleichlichen Geschmack. Da ich mit Ingwer eher vorsichtig bin, reduzierte ich die angegebene Menge und das war gut so. Jedenfals waren alle begeistert von diesem Dal, weshalb Sie am Ende das Rezept erfahren.
Chetna Makans Reise durch die Straßen von vier indischen Megastädten, die fotografisch mit unzähligen Bildern und Collagen von Nassima Rothacker wunderbar eingefangen wurde, lässt einem den Atem stocken angesichts des ungeheuer vielfältigen Angebots an Essen. Und es parken Fahrräder und Luxusautos einträchtig nebeneinander vor diesen kleinen Imbissständen, während arm und reich ohne Standesdünkel geduldig ansteht, um ein Eier-Curry oder Ragda Pattice zu bekommen, das sind Kartoffelküchlein mit Kichererbsen. Wie gut, dass es Makans India Street Food Kochbuch gibt, das erspart uns das Anstehen. Mit dem Buch in der Hand geht es in die Küche, und in kürzester Zeit entsteigen wundervolle Düfte aus den Kochtöpfen wie auf Indiens Straßen, machen uns den Mund wässrig ob der Köstlichkeiten, die da entstehen.