Claudia Knapp, Mayk Wendt, Zu Gast im Engadin

Mit Fotografien von Mayk Wendt
Callwey Verlag, München, 2023, 208 Seiten, 45.-- Euro
ISBN 978-3-7667-2672-8
Vorgekostet

Heute reisen wir ins ENGADIN.

Increschantüm ist das vielleicht häufigste Wort, wenn man mit  Engadinern ins Gespräch kommt und über ihre schöne Heimat redet. Increschantüm bedeutet Heimweh. Und im Talnamen, d. h., der Vorsilbe ‚En‘ steckt der rätoromanische Name des Flusses Inn. Er ist auch das einzig Gemeinsame zwischen den beiden Nachbarn Engadin und Nordtirol, der Inn, der sich tief ins Tal eingegraben hat. Zwei Regionen, die von Gebirgen geprägt sind. In beiden ist der  Wintertourismus ein treibender Wirtschaftsmotor und luxuriöse Ferienorte wie St. Anton oder St. Moritz der Garant für Außergewöhnliches, ob Sport oder Kulinarik. Wir konzentrieren uns heute auf den Graubündner Teil des Inntales, wo eine besondere Spezies von Älplern seit Jahrhunderten dem rauen Klima trotzt und in dieser Abgeschiedenheit eine bemerkenswerte Alltagsküche entwickelte. Mit Claudia Knapp erkunden wir das Engadin kulinarisch. Die Unterengadinerin ist ausgewandert und zurückgekommen, hat den Schmerz im Glück erfahren, was Increschantüm auch ausdrückt. Also los, machen wir uns auf und erkunden wir das Glück auf den Tellern unserer Nachbarn. Mit Claudia besuchen wir lesend, staunend schauend auf vielen Seiten, was dieser helvenistische Landstrich an Natur, Kultur und für Feinschmecker zu bieten hat.

Zu Gast im Engadin soll uns die Schönheiten dieses Schweizer Kantons vor Augen führen, mit Menschen bekannt machen, für die das Fremde in diesem Tal zum Eigenen gehört, wie Angelika Overath es einmal formulierte. In fünf Kapiteln nähern wir uns dem bekannten wie auch unbekannten Engadin. Im Unterengadin beginnend, geht es nach einem kurzen Abstecher ins Münstertal weiter ins Oberengadin. Von dort zieht es uns nach St. Moritz und nach Sils.

Unser erstes Ziel aber ist der Hof Zuort. Dort tragen Andrea und Not Pult, die Pächter, traditionelle Gerichte auf, die nicht alle bekannt sein dürften. Sie kochen, wie sie schon immer im Engadin gekocht haben, sagen sie, mit viel frischen Eiern von den Hühnern. So machen wir das und servieren einen Tatsch, den wir auch kennen. Da sind farina, zücher, buns, also Mehl, Zucker und Eier drinnen, wie die Zutaten auf romantsch heißen – und der Tatsch uns wohlbekannt als Kaiserschmarrn. Nun, den kennen wir und bereiten ihn auch so zu wie die Pults. Wir nehmen Fahrt auf, tauchen tief in die kulinarische Welt des Engadin ein, eine Alpenküche die früher mit dem auskommen musste, was dort oben wächst. Die Pitzokels sind Teigspatzen, die hier mit normalem Mehl zubereitet, etwas kerniger im Biss werden, wenn man Buchweizen- mit Weizenmehl mischt im Verhältnis drei zu zwei. Pitzokel sind eigentlich dicke Spätzle. Sie werden klassisch mit Speck, roten Zwiebeln, Federkohl, das ist Grünkohl, und ein paar Nadeln Rosmarin und Butter gegessen. In der Züricher Alpenrose waren sie der Hit und wurden in verschiedenen Varianten angeboten, mit pochierten Birnen, mit gemischten Pilzen, mit Marroni, Zwiebelringen und Salbei usw. Bei den Pults ist allerdings der Pizokel nur mit der Salametto perfekt. Eine Trockenwurst, die erst mit Knoblauch und Rotwein verfeinert, die Kraft der Landschaft verströmt. Was aber die Salametti auszeichnet neben den aromatischen Besonderheiten, ist der vergleichsweise geringe Fettgehalt, das Fehlen von Rötemitteln und Konservierungsstoffen. Soviel zu gesunden Nahrungsmitteln. Ein anderes Gericht, das bei den Pults auf der Karte steht, ist Cullas da Vnà. Kein Gulasch, nein, denn cullas wird rollend ausgesprochen und ist das rätoromanische Wort für Kugel. Cullas sind also kleine Kartoffelknödel mit Speck und geräucherter Wurst. Dafür wird aber kein beliebiger Speck verarbeitet, sondern Panzetta. Ein fetter Rohessspeck, das Wort Roh-Ess-Speck muss man sich auf der Zunge ‚zergehen lassen‘, ist die namentliche Übersetzung ins ‚hochdeutsche‘ des Schweinebauchspecks. Zu den Cullas passt eine große Portion Salat und fertig ist ein feines kleines Abendessen. 

Unser nächster Stopp ist Sent. Die Pensiun Aldier ist ein Ort für die Kunst, für die Literatur und für den Genuss! Wahrlich, ein Ort der Gastlichkeit in den Bergen, vernehme ich und lasse mir flugs, geschmorte Kaninchenschlegel mit Pasta oder Polenta als Beilage servieren. Dazu einen Augen- und Gaumen-Schmeichler, in kräftigem Gelb der Orangen-Fenchel-Salat. Und danach? Millefoglies, kleine kulinarische Bauwerke, die zum Nachbauen einige Übung einfordern. Da werden Blätterteigschichten von kleinen tonnenförmgen Mascarponecremetropfen getragen. Ich hab’s versucht, aber letztlich wurde die Millefoglie zur Cremeschnitte, was sie ja auch ist. Sie glichen wohl mehr den größten Schweizer Cremeschnitten, die ich auf der Bättmer-Hütte auf dem Aletschplateau bekam, aber aromatisch nicht vergleichbar mit dem süßen Gruß aus der Pensiun Aldier.

Das Engadin hatte immer schon Freigeister angezogen. Nietzsche, Einstein und  Frisch waren Gäste und von Dürrenmatt wissen wir, dass er im Nachthemd zum Frühstück in den großen Saal des Hotel Guarda Val kam, da staunten die anderen Gäste. René Stoye kocht überregional alpin, wie das Bouv Assoluto mit Pflaumen und Tschliner Pecorino es beweisen soll. Mit dem Bouv kommt man schnell an die Grenzen, denn das Gericht verlangt nach einem gesalzenen und leicht getrockneten Rindsentrecote von der Metzgerei Hatecke. Zubereitet ist das Ganze einem Carpaccio nicht unähnlich.

In Tarasp betreibt Claudia Kläger das Gasthaus Avrona, alles im Alleingang. Vorher reiste sie um die Welt, um in Küchen von der Emilia-Romagna bis Sylt, bis Myanmar zu arbeiten und Erfahrungen zu sammeln. Heute kocht und backt sie mit Zutaten heimischer Produzenten ein Menue, das Tafelspitz und Polenta in den Mittelpunkt rückt und punktgenaues Kochen einfordert.

Die Focaccia mit Radieschenpesto und Bergkäse ist ein köstlicher Jausenvorschlag von Remy Bailloux, einer Feinschmeckerin und ausgebildeten Patisseurin. Auch die TARTE ABRICOT PÊCHE stammt von ihr, die nachzubauen dagegen eine kleine Herausforderung ist. 

Beim Hatecke in Zernez gibt es nicht nur das Engadiner Trockenfleisch und diverse Rindsfilet-Gerichte. Nein, auch Canedels Tirolais, also Tiroler Speckknödel, die für mich Ausdruck eines geografischen Naheverhältnis sind. Das war nicht immer konfliktfrei, wie die Stadtbefestigung von Glurns belegt. Und das Münstertal, von den Österreichern im Mittelalter verwüstet, ist heute ein Biosphären-Projekt mit Wandermöglichkeiten ohne Ende und einem Benediktinerkloster so alt wie Karl der Große. Auch dort lässt sich gut speisen. Zum Beispiel Schoppina da Vin, das rätoromanische Weinschaumsüppchen von Ramun Schweizer in der Chasa de Capol.

Knapp huscht durch das Val Müstair, um sich fürs Oberengadin umso mehr Zeit zu nehmen. Die Bandbreite der Geheimtipps erstaunt, eröffnet Möglichkeiten zwischen Kunst, beste Crodssants und Dinosaurierspuren. Auch die vorgestellten Etablissments sprechen unterschiedlichste Vorlieben an, ob mondän und elegant oder rustikal lokal. Es fällt schwer, sich zu entscheiden zwischen den dort angebotenen Speisen; ob man dem Lammkarrree mit Bergkäse-Polenta, Glühweinreduktion und Mangoldchips oder den verführerisch aussehenden Kastanien-Ravioli mit dreierlei-Nuts oder dem spartanischen Rind Szechuanpfeffer & Lauch den Vorzug gibt, ist reine Geschmackssache. Alle Gerichte haben hohes Niveau, sind anspruchsvoll im Nachbauen. Es findet sich auch Einfacheres darunter, wie die Gerstensuppe der Familie Tscharner, die sie auf der Segantinihütte servieren. Oder das auf Natur pur reduzierte Stück Ziegenkäse mit einer Handvoll gemischter Kartenkräuter – das ist Isola-Ziegenkäse, wie er in de Villa Flor auf den Tisch kommt.  

Jetzt nähern wir uns St. Moritz an, erhaschen seitenblickemäßig, was viele anzieht: Luxus und Extravaganz, Natur und Kultur. Hier beschränke ich mich auf die Rezeptvorschläge, die alle Stücke spielen, ob rustikal wie das Rehmedaillon mit Rotkabis, Spätzli und Rotweinsauce oder streng strukturiert die Entenleberterrine, Birnen, Portwein. Aber liegt nicht im Einfachsten die höchste Perfektion? Ob das Johannes Badrutt mit seinen Kartoffelgnocchi beabsichtigte, ist eine andere Frage. Für mich löste dieser Gnocchi-Berg jedenfalls reines Essensglück aus. 

Zuguterletzt landen wir in Sils. Eine Ideallandschaft, Ziel vieler Sinnsuchenden, Inspirationsort für DenkerInnen, SchriftstellerInnen, FilmemacherInnen und MalerInnen. Klare Luft, blendende Seen; Friedrich Nietzsche traf am Sielufer auf Zarathustra, überfiel ihn die Erkenntnis der Wiederkehr des Ewigen Gleichen. Was wir von den Speisekarten der Gaststätten und Restaurants im Engadin nicht behaupten können. Allerdings entdecken wir Traditionelles in neuem Outfit, bspw. Egli & Spitzkohl oder die Engadiner Hochzeitsuppe. Sie ist nicht gerade zurückhaltend an üppigen Inhalten, wenn auch das altbackene Brot uns das weismachen will. Zum Weißbrot gesellen sich Eier, Rahm und Speckwürfel und wenn man will, auch Gemüse. Früher wurde im Engadin als Auftakt des Hochzeitsessens diese Suppe serviert, im Haus des künftigen Ehemanns. Dieser saß während des Essens aber nicht neben der Braut, seinen Platz nahm der Pfarrer ein. Dieses Essen nach altem Rezept ist ein Nationalgericht; dazu gehört auch die Engadiner Nusstorte. Eigentlich ein Hohelied auf die Baumnüsse. So nennen die Schweizer die Walnüsse, die von Karamell umhüllt in buttrig-zartem Mürbeteig gebacken werden. Die Nusstorte ist zwar zeitaufwändig, aber wirklich lohnend. 

Zu Gast im Engadin ist eine Reise durch Stuben und Hotellobbys uriger Gaststätten und nobler Grandhotels. Im Prinzip wird man von einem Domizil zum nächsten weitergereicht, kehrt ein in Restaurants und Gaststätten mit köstlicher Bewirtung. Dazu gibt es einige Hintergrundinformationen über die Destinationen, zu den KöchInnen und Personen, die uns schöne Stunden bescheren wollen. Dazwischen eingestreut, wunderbare Landschaftsaufnahmen sowie Foodfotos von Mayk Wendt.

Jedem Kapitel vorangestellt ist eine kurze Einführung, ergänzt um einen Kartenausschnitt, sodass man sich auch geographisch zurechtfindet. Die beigestellten Rezepte sind pure sinnliche Versuchungen. In allen steckt Können auf Sterneküche-Niveau. Also nicht unbedingt leicht nachzubauen, auch wenn es easy ausschaut. Ob das der Rindsschmorbraten, das Bündnerfleischcarpaccio, das Südtiroler Schöpsernes (Lammbraten), die Keule vom Zicklein, die Tarte Schwärzwälder „Dal Mulin“ oder der Steinbutt mit Blumenkohl, Osietra-Kaviar ist, man möchte am liebsten alles ausprobieren, alles nachbauen, von allem kosten. Die großartigen Rezepte lassen sowohl das bekannte als auch unbekannte Engadin aufleben. Wer sich darauf einlässt, wird eine tolle, herausfordernde Küche entdecken.