Heute reisen wir nach ENGLAND.
Genau genommen nach Südengland, in die Region South East. Zu einem Ort der cirka 50 nördlich von Southampton liegt und Normalsterblichen meist verschlossen bleibt. Zu den Carnarvons auf Schloss Highclere. Sie leben auf „Downton Abbey“, einem rund 400 ha großen viktorianischen Anwesen, das mit einem serienreifen Kostümdrama schlagartig weltbekannt wurde. Seit 1300 Jahren leben auf Highclere Menschen, die Geschichte machten. Für die Familie Carnarvon ist das Castle seit 1679 Lebensmittelpunkt. Sir Charles Barry schuf das 300 Zimmer zählende Gebäude zwischen 1839 und 1842 in seiner heutigen Form. Früher also gaben sich dort die Lords, Earls und Dukes die Klinke in die Hand, wurde beim Nachmittagstee Politik gemacht. In den letzten Jahren öffneten sich die Pforten auch für das gemeine Fußvolk. Es darf an 60 Tagen im Jahr das Anwesen betreten und bestaunen. Gelegenheiten gibt es genügend. Ob Gartenparty, Drehortführung oder Schlossbesichtigung, der Ansturm ist gewaltig. Fiona, the 8th Countess of Carnarvon setzte dem Ganzen nun noch ein Krönchen auf, macht Kapital mit der Neugier, einen Blick hinter die Kulissen eines altehrwürdigen Adelshauses zu werfen. Ein Bildband mit Hintergrundgeschichten über Herr- und Dienerschaften, mit Rezepten sowie bemerkenswerten historischen und aktuellen Fotografien gibt Einblick in ein großartiges Haus. Zu Gast in Highclere Castle ist im Callwey Verlag erschienen.
Der Verlag liebt das mondäne, herrschaftliche Ambiente, das zeigt sich im Verlagsprogramm mit den vielen Gartenbüchern, die mE ein britisches Flair ausstrahlen. Und auch in den Kochbüchern, die in ihrem Design einer leicht englischen Note nicht entbehren. Aber das ist ein sehr subjektiver, persönlicher Eindruck, und mir gefallen sie.
Zu Gast in Highclere Castle ist quasi dreiteilig aufgebaut. Durchgängig begegnen wir immer Fiona, sie führt durch Haus, Küche und Garten, besser gesagt Parkanlagen. Die Führung beginnt mit der Architektur und endet bei einem Wochenende auf Highclere heute. Dazwischen eingestreut sind kurze historische, politische und architektonische Abhandlungen, in Form von Geschichten und Portraits. Da werden der Salon, die Bibliothek und andere Privatgemächer genauso vorgestellt wie Personen, die für das Schloss wichtig sind. Dazu zählen der Imker Mike Withers, die Hauswirtschaftsleiterin Diane Moyse ebenso wie der Sicherheitschef oder der Parkaufseher oder die Schlossführerin Margery Goldsmith. Von ihr stammt diese nette Geschichte:
„Einmal fragte jemand, ob die Gemälde im Raucherzimmer echte „Cannelonis“ wären“, und sie antwortete, ohne die Miene zu verziehen: „Leider nicht, sie stammen aus der Schule Canalettos.“
Derartige kleine, heitere Einschübe machen das Werk zu einem kurzweiligen Lesevergnügen. Ergänzt werden die Texte mit meisterhaften Fotografien, die Parks und Landschaften fast sphärisch einfangen wie auch die Bewohner dieses Anwesens uns nahe bringen. Aber ganz besonders die Architektur. Einige Räume werden auch ausführlicher vorgestellt. Der Salon oder die Bibliothek bspw., sie zeigen sich in zeitloser Eleganz. Das zauberhafteste Bild ist aber der Blick auf Heaven’s Gate, und zeigt ein fernes Himmelstor umrahmt von einem herbstfarbenen Wald.
Nach Anwesen und Menschen konzentriert sich die Autorin nun auf die Rezepte. Rund 100 Gerichte werden vorgestellt, die sowohl aus der englischen Landküche stammen wie auch internationalen Background haben. Wie es sich für eine selbstbewusste Kolonialmacht gehört, wird der kulinarische Einfluss Indiens, Kanadas, Australiens, auch befreundeter und bekriegter Nachbarn nicht ausgeschlossen. In sechs Kapiteln führt uns Fiona Delikatessen vor, die in ihrer Welt einen gewissen Alltagscharakter haben, aber auch historische Bedeutung. Etwa die Rotzunge nach Art von Dugléré, das 1867 zum ersten mal drei Herrschern serviert wurde. Ein berühmtes Gericht, das von der Balance zwischen Kochsud und Fisch lebt. Herrlich und so einfach! Am Anfang des Tages steht aber auch bei den Highclerers das Frühstück. Dazu gehört wohl auch die Eier Hollandaise Highclere Castle, eine Variante von Eier Benedict. Der junge Spinat, der hier hinzukommt, macht den Unterschied. Aber es kann auch mal indisch ausfallen, dann, wenn Kedgeree mit geräuchertem Schellfisch serviert wird. Das ist noch deftiger und hebe ich mir als Katerfrühstück auf. Wie sehr Jane Austen auf das Frühstück Einfluss hat, ist nicht beschrieben. Lediglich die Hühner, die die Frühstückseier liefern, sind nach Austens Romanheldinnen benannt. Das und weitere dieser Geschichtchen rund ums Essen lässt die Autorin im Vorspann der Rezepte einfließen. Heiter und lustig und manchmal auch sehr geschichtsträchtig sind diese kurzen Episoden. In weiteren Essenskapiteln geht es dann um Fisch und Meeresfrüchte, dann Fleisch, Wild Geflügel, dem Gemüse, Suppen und Herzhaftes folgen, die dann vom Nachmittagstee abgelöst werden, und am Ende wird dem Süßen gehuldigt. Aus der Fischabteilung habe ich den in Rote-Bete-gebeizten Lachs ausprobiert. Die erste Überraschung war die Beize, die mit 250 g Salz und gleich viel Zucker angemacht ist. Und die zweite Überraschung war, nachdem der Fisch über Nacht in der Marinade vor sich hin simmerte, der erste Bissen in das Brötchen – himmlisch. Ergänzend zum Aroma kommt noch das knallig schillernde Rot des Fisches. In der Fleischabteilung geht es dann auch sehr britisch zu. Ob Hirschlende à la Highclere mit Fondantkartoffeln, Pastinakenpüree, Wildpilzen & Wacholder-Jus, Schafskeule mit pikanter Soße [Le Gigot de Mouton] oder Haggis [Schafsinnereien im Schafsmagen], hier kommt die englische Seele des Jägers unvermittelt zum Vorschein. Aber den geschmorten Rotkohl muss man nicht unbedingt zu Fleisch machen. Ein tolles Rezept mit 14 Zutaten – da staunt man nur mehr. Das Gemüse- und Suppenkapitel danach ist eine wahre Fundgrube. Das beginnt mit einem Risotto mit Erbsen & Minze der selbst mir, der behauptet, ein wenig Ahnung davon zu haben, noch neue Perspektiven aufzeigte. Vor allem zeigt dieses Rezept auf, welches Potenzial in der unscheinbaren Erbse steckt. Genial einfach ist dieser Risotto und von unheimlich sämiger Konsistenz. In diesem Kapitel gibt es viel zu entdecken: Eine Kokos-Röstkürbis-Suppe mit Korianderkraut, eine Spinatsuppe mit Ziegenkäse und einige mehr. In den Kapiteln Nachmittagstee werden Scones in unterschiedlichen Varianten serviert und in Süßes nicht nur Puddings. Einen habe ich herausgegriffen: den Kabinettpudding, der auch als Dessert des Schatzkanzlers bekannt wurde. Von dieser süßen Verführung bekommen Sie diesmal die Rezeptur.
Wer England liebt, wer den Adel liebt, wird auch dieses Kochbuch lieben. Zu Gast in Highclere Castle ist nämlich mehr als nur eine Ansammlung von Rezepten und Geschichten. Allerdings gibt es kein Butlerportrait, wiewohl Chef- und Hilfsbutler über Generationen zum Personal gehörten. Auch der Weinkeller bleibt außen vor, unsichtbar wie der Schlossgeist von Highclere Castle. Das liegt aber nicht an den Übersetzerinnen, ihre Arbeit ist hervorragend. Das Register ist äußerst umfangreich und ausnahmsweise zählen die C-Eintragungen zu den häufigsten. Einerseits weil sehr viele Carnarvons über die Jahrhundert auf Highclere Castle lebten, anderseits die Oberschicht Champagner und Cocktails liebt. Wie auch Tee und Crumpets. Die vorgestellten Kulinarien sind Highlights ebenso das architektonische Interieur. Locker geschrieben gibt Zu Gast in Highclere Castle Einblick – so heißt es im Vorwort – ins wahre Leben auf Highclere Castle. Sehr schön gestaltet, mit ausdrucksstarken Food- und anderen Fotografien, ist dieses Gastbuch ein Prachtband. Aber Vorsicht, die vorgestellten Köstlichkeiten haben es in sich, spätesten beim Bab au Rhum, den Rumgetränkten Napfkuchen heben Sie ob des betörenden Duftes vom Küchenboden ab.