Gerd Wolfgang Sievers, la cucina veneziana

Küchengeheimnisse Venedigs vom Centro Storico bis in die Lagune

Braumüller Verlag, Wien, 2018, 352 Seiten, 25.-- Euro
ISBN 978-3-99100-227-7
Vorgekostet

Heute reisen wir nach VENEDIG.

In die Traumstadt vieler Städtebummler. In eine Stadt, die Maler genauso wie Literaten fasziniert. Ist für Thomas Mann Venedig die unwirklichste Stadt der Welt, so relativierte Friedrich Torberg diese Ansicht durch seine reiselustige Tante Jolesch, die mit einer kryptischen Bemerkung meint: alle Städte sind gleich, nur Venedig is a bisserl anders.

Jährlich besuchen 20 Millionen Touristen diese Inselstadt, wälzen sich auf vorgegebenen Pfaden von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Wir sind dabei. Mit dem Vaporetto geht‘s nach Murano, die Glasbläserinsel will gesehen werden. Dann zurück zum Marcus-Platz mit Gummistiefeln, denn Venedig steht unter Wasser. Wir retten uns ins Bauer-Hotel, dem Treffpunkt des internationalen Jetsets, vielleicht ist Madonna da … Nein. Leicht frustriert besuchen wir den Palazzo Pisani Moretto; wandeln kurz auf der prächtigen Prunktreppe, die auch Josephine Bonaparte und Josef II. von Österreich beeindruckt haben soll. Das heitert auf, der Tag ist gerettet. Am nächsten Tag gehts dann zum Rialto-Markt, dort soll Donna Leon einkaufen. Auch da haben wir kein Glück. Es ist mittlerweile 10 Uhr. Unseren ersten Hunger sollen Brötchen und Buttercroissants stillen, aber die sind aus. Die Touristen waren wieder schneller! Also suchen wir die Hausnummer 1323, wo wir Harry’s Bar finden. Hier können wir verschnaufen unter Fotos berühmter Persönlichkeiten, die schon da waren. Eventuell treffen wir dort auf Gerd Wolfgang Sievers, den Koch und Autor vieler Kochbücher sowie kulinarischer und gastrosophischer Reise-Kolumnen. Sein jüngstes Werk, la cucina veneziana ist eben im Braumüller Verlag erschienen.

Sievers ist natürlich nicht in der Bar, obwohl er sie immer aufsucht, wenn er in Venedig ist. Und so vertiefen wir uns bei einem Bellini ein wenig in sein Venedig-Buch. Eine Lektüre, die den Küchengeheimnissen Venedigs vom Centro Storico bis in die Lagune nachspürt, das verspricht der Untertitel. Aber wenn Tausende das Buch gelesen haben, dann sind es keine Küchengeheimnisse mehr, denke ich mir.

In Harry’s Bar erfolgte offenbar Sievers Venedig-Initiation. Seine „essensaffinen“ Eltern waren mit ihm dort essen, und der junge Wolfgang durfte sich die Küche ansehen – ein Tick des Buben, überall in die Küche reinschauen zu wollen. Aber in dieser Bar hatte er besonderes Glück, denn da konnte er den Chef Guiseppe Cipriano höchstpersönlich kennen lernen, und das war vielleicht auch die Richtungsvorgabe für seinen weiteren Lebenslauf. Rezept hat er damals keines erhalten, aber zugeschaut, wie dort das Carpaccio geschnitten wird. Jetzt Jahrzehnte später, widmet Sievers dem Carpaccio und seinem Erfinder Cipriani ein ganzes Kapitel. Da erfährt man, dass der rote Farbton des Rindfleisch an den venezianischen Maler Carpaccio erinnern. Dass Carpaccio Puristen selbst rot anlaufen (das denke ich, sic), wenn ihnen eine Fälschung mit Lachs, Wolfsbarsch, Hirsch, Reh, Lamm, Ziege oder anderes vorgesetzt wird. Das Fleisch muss pariertes Rinderfilet sein, nach Möglichkeit vom Piemonteser Rind, dann ist das dem original Carpaccio sehr nahe.

In vier Hauptkapiteln, wie ein italienisches Menü, nähert sich Sievers den venezianischen Gerichten. Im ersten Antipasti, Ciccheti & Co sind auch gleich die wohl bekanntesten ‚Venezianer‘ angesiedelt. Pesce in saòr, das bereits erwähnte Carpaccio oder das für Sievers überhaupt wichtigste Rezept schlechthin, Baccalá mantecato. Warum ausgerechnet Stockfisch für die Venezianer so eine große Bedeutung hat, nachdem im Mittelmeer dieser Fisch gar nicht vorkommt, erläutert der Autor ausführlich. Sehr schön arbeitet er verschiedene Aspekte heraus: woher sich mantecato etymologisch ableitet, welche Merkmale das cremige Püree aufweisen muss, welche Bedeutung Stockfisch in der venezianischen Gesellschaft hat und welche Rolle das Trienter Konzil von 1563 dabei spielt, wie denn überhaupt der Stockfisch vom hohen Norden in die Stadt kam und natürlich, wie er zubereitet wird. Das Rezept Baccalá mantecato stammt von Massimiliano Alajmo, wie er den Fisch im Ristorante Quadri zubereitet.

In dieser Form wird alsdann in 41 Unterkapiteln die traditionelle Küche Venedigs aufbereitet. Also kein herkömmliches Kochbuch und auch kein Restaurantführer, wenngleich Rezepte vorkommen und ausgewählte Restaurants mit Adresse angeführt werden. Nach dem Verständnis von Sievers ist es ein Lesebuch, das einen Blick in die Kochtöpfe aber auch auf das gesellschaftliche und gerichtliche Umfeld gewährt. Es ist eine Mischung von persönlichen Erfahrungen und geschichtlichen Exkursen, die uns ein großartiges Panorama der venezianischen Küche vermittelt. La cucina veneziana, im leichten Plauderton mit Tiefgang geschrieben, lässt uns eintauchen in die Serenissima und auch Persönlichkeiten und historische Ereignisse kennen lernen, die weniger bekannt sind. Das alles im Kontext von Gerichten, die zu dieser Stadt gehören. Der Schwerpunkt, schreibt der Autor einleitend, liegt auf dem gesellschaftlichen Venedig, auf dem, was ihr den Beinamen „Allerheiterste“ eingebracht hat. Und weiter: Es geht um die Geschichten und Legenden, um das Leben und Lieben in der Stadt und um die großen Protagonisten, die uns diesen Lebensstil dankenswerterweise literarisch überliefert haben. Leider gibt Sievers keine Quellen an, fehlt ein Literaturverzeichnis.

Viele Rezepte werden von Köchen vor Ort eingebracht. So zeigt Carlo von iSAPORI, wie er Castrare al forno, ein Artischockengericht, zubereitet oder Grande amico Stefano, ein Altmeister der venezianischen Küche, die Zabaion anrührt. Da dachte ich an meine italienische Großmutter, die mir „Schoto“ machte, wie sie die Zabaione nannte. Glückliche Erinnerungen sind mir gekommen, als ich dieses schaumige Dessert nach langer Zeit für meine Kinder förmlich zelebrierte.

Gerd Wolfgang Sievers ist bestens vertraut mit er venezianischen Küche, hat viele Freunde dort. Spannend sind nicht nur die Geschichten, die er erzählt, sondern auch die damit verbundenen Gerichte. Z. B., Bigoli con ragù d’anafra, ein Pastagericht, dem ein Entenragout nachgereicht wird oder der Hühnerrisotto Risotto alla sbirraglia oder Fritto misto alla veneziana mit Fischen und Meeresfrüchten oder Fave dei morti, das übersetzt Pferdebohnen der Toten heißt und am Allerseelentag als süßes Gebäck gerne serviert wird. Aber auch weniger bekannte Gerichte wie Insalata dei Dogi, ein Spargelsalat, oder Bovoloni alla Paesana, ein Schneckengericht, das im 19. Jahrhundert das Arme-Leute-Essen der Bauern und Gondolieri war. Schnecken werden Sie aber trotz Rezept nicht zuhause zubereiten, weshalb ich Ihnen auch das venezianische Hühnerrisotto vorstelle.

La cucina veneziana von Gerd Wolfgang Sievers ragt aus dem Berg der vielen Venedig-Kochbücher heraus, da es zunächst einmal kein Kochbuch sein darf, was es aber in gewisser Weise doch ist, zum anderen aber einen anderen Blick auf eine der interessantesten und geschichtsträchtigsten Städte Europas gewährt. Darüber hinaus sind einige Ristorante angeführt, die abseits der Massenabfertigungen lokale Gerichte anbieten. La cucina veneziana ist also auch in gewisser Weise ein Stadtführer der besonderen Art. Und wer jetzt nicht nach Venedig fahren kann, kann sich mit Gerd Wolfgang Sievers kulinarisches Flair nach Hause holen. Und wenn Sie dann das Nachgekochte verzehrt haben, gibt es als letzten Nachschlag vielleicht die dazugehörige Geschichte vorgelesen – so mache ich es.

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