Heute reisen wir nach IRLAND.
Von London hinauf nach Wales zum kleinen Hafen Fishguard, dann mit der Fähre über den St. Georgs Kanal. Drei Stunden dauert die Überfahrt. In Rosslare Harbour angekommen, fahren wir geich weiter. Unser Weg führt durch irische Dörfer. Niedrige Häuser, verwaiste Fabriken und Spielhallen ziehen an uns vorbei. In der kargen Landschaft leben nur wenige Menschen, dafür umso mehr Schafe. Diese Insel im äußersten Westen Europas ist ein Agrarland, schrieb der Reiseschriftsteller Geert Mak. Sie ist bis heute von der Armut vieler Generationen geprägt. In manchen Katen wird noch mit Torf geheizt. Und während wir uns bei einem Guiness im Pub entspannt zurücklehnen und dem Dorftratsch lauschen, brodelt es in allen möglichen Kesseln und Schmortöpfen auf dem Torffeuer. Ein verführerischer Duft und die Frage, was ist in diesen Töpfen?, drängt sich auf. Irisches Essen, na klar! Aber: Was ist irisches Essen? Nun, dieser Frage ging Jp McMahon nach; eine Spurensuche, die drei Jahre dauerte. Sie führte ihn in die irische Nationalbibliothek genauso wie in unzählige Küchen des Landes, wo er den Köchinnen und Köchen über die Schulter schaute. Am Ende waren 900 Rezepte gesammelt, die quasi das kulinarische Erbe Irlands darstellen. Etwa die Hälfte wurde in The Irish Cookbook aufgenommen, das im Phaidon Verlag, in englischer Sprache, herausgekommen ist.
McMahon ist Koch und Autor. Und, er brennt für irisches Essen. Für die Beantwortung der Frage: What Is Irish Food?, benötigt McMahon genau 432 Seiten. Dabei ist die Antwort so simpel wie die Frage: Irisches Essen ist die Summe aller Lebensmittel, die auf der Insel verzehrt werden. Und, die irische Küche war immer offen für Neues. So auch für die Waterford Blaa Brötchen (Waterford blaa). Das Rezept kam mit geflohenen Hugenotten im 17. Jhdt nach Irland und wird heute nur noch in Waterford von einigen Bäckern produziert. Oder die Kartoffel und die Missernten im 19. Jhdt., die zu drei großen Hungersnöten führten, auch dies beeinflusste die irische Küche. Autochthon westirisch dagegen ist das Galway-Schaf. Und am River Moy werfen hunderte Fliegenfischer ihre Angeln aus, um den irischen Lachs zu fangen. Wenige wissen von den Austern und Napfschnecken, die an den Küsten Irlands der Brandung trotzen. Sie dienten den ersten Iren bereits als Nahrung. Sehr bekannt dagegen ist Sodabrot (white soda bread), das viele für ein traditionelles irisches Lebensmittel halten. McMahon versucht das alles zu berücksichtigen und in die Beschreibung der irischen Küche einfließen zu lassen. Das heißt, sozialhistorische, literarische, volkskundliche und ernährungsphysiologische Zusammenhänge sind Teil seiner Ausführungen.
In 15 Kapiteln erschließt uns der Autor eine Kochkultur mit – in erster Linie – kommerziell produzierten Nahrungsmitteln. Er berücksichtigt aber auch natürliche Nahrungsangebote, wie Schalentiere, Jagdwild und Wildpflanzen. Irland war bis in die 1980er Jahre maßgeblich von der Landwirtschaft geprägt. Vielleicht lässt McMahon den Kapitelreigen deshalb mit Eiern und Milchprodukten beginnen! Eier und Milch gehören zu Irland wie das Frühstück zum Tagesbeginn. Die Milch war nach der Kartoffel eines der wichtigsten Lebensmittel. Butter war kostbar, diente als Zahlungsmittel. Die Buttermilch ist heute eine Hauptzutat für das Sodabrot (white soda bread). Überhaupt genießt Buttermilch eine Sonderstellung in der Küche, wird sie doch als Marinade für viele Fleischgerichte eingesetzt. Die Rezepte in diesem Kapitel geben einen ersten Vorgeschmack auf die Reichhaltigkeit irischer Esskultur. Da werden uns Rühreier mit Chorizo und Ziegenkäse (scrambled eggs with chorizo and goat’s cheese) serviert. Aber auch eine Speck und Ei-Tarte (bacon and egg tart), Wachteleier mit Räucheraal und Spargel (quail’s eggs with smoked eel and asparagus), Frischkäse mit Brennnesseln (cream cheese with nettles), Milleens – das ist ein Rohmilch-Schnittkäse – mit gerösteten Haselnüssen (Milleens with roasted hazelnuts) und einiges mehr.
In den weiteren Kapiteln behandelt McMahon dann Gemüse, dem Schalentiere, Süß- und Salzwasserfische folgen. Das umfangreiche Thema Fleisch wird sinnvollerweise gesplittet in Geflügel, Niederwild, Wildschwein und Schweinefleisch, Lamm, Schaf und Ziege sowie Rindfleisch.
Eingebettet in den Kapiteln sind immer wieder ausführliche Beschreibungen von Lebensmitteln wie Butter und Buttermilch, Käse, Aal, Wildfleisch, Ziege, Konfitüren, Cider oder Apfelwein, Waldpilze etc.. Diese sachbezogenen Schnittstellen liefern Hintergrundwissen zu einem besseren Verständnis der irische Kochkunst. Ihre Palette reicht von raffiniert gehoben bis einfach rustikal. Der Hühnereintopf mit Knödeln (chicken stew with dumplings) zählt zu Letzterem und schmeckte meinen Testessern hervorragend.
In diesem Kochbuch kommen überhaupt die Fleischesser auf ihre Kosten. Ob Rebhuhn mit Brombeersauce (partridge with blackberry sauce), Kaninchen- und Kartoffeleintopf (rabbit and potato stew), Schweinehals mit Karottenpüree und Hafer (pork neck with carrot purée and oats), die Fleischeslust brilliert mit allen Gattungen, macht selbst vor Tauben mit Stout (pigeon and stout), mit obergärigem Bier, nicht halt. Wer es deftig mag, dem seien die Dingle Pies (Dingle pies) ans Herz gelegt, ein Hammelgericht aus der Grafschaft Kerry und die wahrscheinlich berühmteste Pastete Irlands. Einige Seiten weiter dreht sich dann alles ums Beef. Hier finden sich neben ungewöhnlichen Rezepten wie Beef und Whiskey Tee (beef and whiskey tea) auch traditionelle, etwa der Rindfleisch-Stout-Eintopf (beef and stout stew), der ursprünglich mit Guiness angesetzt wurde.
Das Kapitel Fleisch wird abgelöst von Brot, Scones und Kräckers. Einleitend verrät ein alter Volksreim, wie es ums Brot bestellt ist, und lässt uns die Brot-Vielfalt erahnen. ‘Rye bread [Roggenbrot] will do you good; Barley bread [Gerstenbrot] will do you no harm. Wheaten bread [Weizenbrot] will sweeten your blood, Oaten bread will [Haferbrot] strengthen your arm.’. Es ist beeindruckend, auf welch reiche Brottradition dieser kleine Inselstaat verweisen kann. Die meisten Menschen assoziieren heute Sodabrot mit Irland, schreibt McMahon. Aber seine Tradition ist nicht alt, denn das Backpulver (Natriumbikarbonat) wurde erst im neunzehnten Jahrhundert erfunden. Irlandfans schwärmen vom Sodabrot, das über offenem Torffeuer gebacken wurde. Und auch die Zahl an Scones-Variationen kann sich sehen lassen. Von süß bis herb reicht die Palette dieses muffinähnlichen Keks. Ob mit Rosinen, Buttermilch oder Käse angereichert, ob im Backofen oder über offenem Feuer gegart, wer einmal von den Scones gekostet hat, der kann davon nicht mehr lassen. In Irland wurde früher Schmalz verwendet, wer es weniger geschmacksintensiv mag, der verwende kalte Butter. Neben Braunen Scones (brown scones) und Buttermilch Scones (buttermilk scones) gibt es auch Treacle Scones (treacle scones) und Griddle Scones (griddle scones). Sie wissen, was Treacle und Griddle ist? Ich weiß es nicht wirklich. Nun, Treacle ist Zuckersirup, aber welcher? Und Griddle ist einerseits eine Bratpfanne, in Irland aber eine gusseiserne Platte, eine Art Backstein. Schade, dass McMahon kein allgemeines Glossar anlegte, in welchem spezielle Begriffe erklärt werden. Und es gibt einiges, das ich gerne nachgeschlagen hätte. Bspw. nach Poteen, einem Gerstenschnaps, der dem Moorhuhn (grouse and poteen) einen besonderen Geschmack verleiht. Oder, was versteht McMahon unter kräftiges Mehl genau? Weizenmehl Type 550 oder Type 1050 oder 997er bzw. 1370er Roggenmehl. So musste ich doch einige Male das Internet bemühen, und das mit mäßigem Erfolg.
Jetzt, in der Vorweihnachtszeit, legt sich über die irischen Dörfer der Duft von süßem Gebäck. Backen hat auf der Insel eine lange Tradition. Die Kuchenrezepte werden von Generation zu Generation weitergegeben. Dazu zählen der Karottenkuchen von Tante Peg (my Aunty Peg’s carrot cake) als auch der Obststreusel meiner Großtante Kay (my Great-aunt Kay’s fruit crumble). Leckereien, die nicht nur den Autor zurück in seine Kindheit versetzen. Als Variante regt McMahon an, die Gewürze und Trockenfrüchte wegzulassen und den Karottenkuchen mit getrocknetem Waldmeister zu beleben. Lus moileas, wie Waldmeister in Irland genannt wird, und andere in freier Natur wachsende Nahrungsmittel stellt der Autor am Ende ausführlich vor.
Davor geht es aber noch um kochtechnische Fertigkeiten wie Beizen und Konservieren. Also um das Haltbarmachen von Fleisch ebenso von Beeren und Früchten. Dazu zählt auch das Herstellen verschiedenster Essige und von eingelegtem Gemüse, darüber hinaus Pökelfleisch und Marmeladen. Mein Lieblingsrezept ist hier eindeutig die Orangenmarmelade mit Wiskey (orange marmalade with whiskey). Dabei erfuhr ich, dass die Iren schon immer eine Vorliebe für die Orangen aus Sevilla hatten und die Marmelade auch für Desserts wie Käsekuchen und Panna Cotta verwendet wird. Nicht weit entfernt vom Konservieren ist das Getränkemachen. Letzteres beschränkt sich nicht auf die klischeehafte Vorstellung, Iren trinken nur Guinness und Whiskey. In diesem Kapitel werden Getränke vorgestellt, die vom Brombeermix (blackberry shrub) aus Frucht, Zucker und Cider bis hin zu dem allseits bekannten und beliebten Irish Coffee (Irish coffee) reichen. Eine enorme Bandbreite von Flüssigem, die Rhabarber Säfte mit Ingwer (rhubarb and ginger shrub) oder anderem genauso berücksichtig wie das Baby Guinness (Baby Guinness), ein Cocktail aus Kaffee- und Irish-Cream-Likör im Verhältnis von zwei zu eins.
Wer nun glaubt, das war’s, täuscht sich. McMahon rafft sich noch einmal auf zu einem Streifzug durch die Wildnis Irlands. In diesem Kapitel öffnet der Autor eine Seite welche in den Kochbüchern sehr selten vorkommt. Da werden Wildpflanzen, Meeresfrüchte und Pilze vorgestellt, die nur in der Natur vorkommen. Freilich, nur indexiert, ohne Bild und kurz beschrieben, ist dieses Kapitel allerdings ein wertvoller Leitfaden vor allem für Experimentierfreudige und Wagemutige. Da geht es um die wilde Karotte (Carrot, wild), um natürlichen Fenchel (Fennel) und andere weniger bekannte wie das Smyrnerkraut oder Alisander (Alexanders), eine vergessene Nutzpflanze, die seit dem Mittelalter als Gemüse genutzt wird. Diese natürlichen Ingredienzien werden lexikaisch verdichtet vorgestellt, wenn auch zu bedenken ist, dass die Ausbeute beim Sammeln viel geringer ist als die Ernte aus konventionellem Anbau.
The Irish Cookbook von Jp McMahon ist das Werk eines besessenen, kochwütigen Iren, der dem Rest der Welt die Küche seiner Heimat vorstellen will, mit all ihren Ausprägungen. Das lässt sich nicht nur am Rezeptumfang ermessen, sondern auch an der Auflistung der zahlreichen Publikationen über die Nationalküche, die ausgewertet wurden. Ein Arbeitsaufwand, der sich lohnte, denn The Irish Cookbook ist das gegenwärtig wohl vollständigste Kochbuch über die irische Esskultur. Das lässt sich auch rückschließen aus dem mehrseitigen Inhaltsverzeichnis, das kaum einen Wunsch offen lässt. Zwar vermisste ich bspw. die Anleitung der irischen Variante von Clotted Cream, wie ich mir auch manchmal genauere Angaben etwa über die zu verwendenden Mehltypen wünschte oder eine etwas größere Schrift für die Zutatenlisten. Aber das sind Marginalien angesichts des Stoffumfangs. Und ich akzeptiere die einleitende Anmerkung des Autors: Kein Buch ist endgültig!
Ergänzend sei noch auf die hervorragenden Fotografien von Anita Murphy hingewiesen, die, arrangiert von Zania Koppe, zeitlose Eleganz ausstrahlen. Nicht zuletzt auch wegen der einfühlsamen Gestaltung, in der Schrift und Design zu einer Einheit verschmelzen. Und es sind bunte, marmorierende Flechten, die sowohl den Umschlag schmücken als auch an jedem Kapitelbeginn eine Doppelseite füllen. Ein Sinnbild der langen Geschichte irischen Essens, wie mir scheint.
In Irland heißt es, war man immer auf Brillen angewiesen, auf dichterische, träumerische, romantische und nostalgische Brillen, um dieses Leben hinzunehmen, ihm einen Sinn geben zu können.* Jp McMahon hat mit The Irish Cookbook eine genussvolle Brille geschaffen, die uns das kulinarische Leben der Iren erfahren lässt.
* Geert Mak. In Europa, Seite 753, Siedler Verlag, 2005