Heute reisen wir in die SCHWEIZ.
Wir begeben uns auf Spurensuche nach einer Köchin und ihrem Nachlass. Den meisten Menschen außerhalb Helvetias dürfte der Name Elisabeth Fülscher nichts sagen. Dabei ist diese Frau vielen Eidgenossen bekannt, fast eine Institution wie das Matterhorn oder die Wetterschmöker oder die Schwinger. Einige Generationen verleibten sich Fülscher buchstäblich ein. Denn, dieses Fräulein führte eine Kochschule in welcher junge Frauen aus eher wohlhabenden Kreisen die gehobene Küche und das hauswirtschaften beigebracht wurde. Aber bekannt geworden ist sie mit einem Kochbuch. 1923, also vor genau 100 Jahren zum ersten Mal erschienen, erlebte dieses Kochbuch bis in die 60er Jahre einige Auflagen. Die Fülscher ist ein Nachschlagewerk für Rezepte, Kochtechniken und Haushaltsführung, avancierte in kürzester Zeit zum Standardwerk der Schweizer Küche. In unzähligen Küchenschubladen wurde es verwahrt und herausgeholt um Rezepte nachzuschlagen. Das Kochbuch wurde immer wieder den Kochstilen der Zeit angepasst, die ja auch von der Verfügbarkeit der Zutaten beeinflusst waren. So zählten bspw. Avocados um 1960 zu dem normal erhältlichen Gemüse, während Mais, der in Mitteleuropa in großem Stil angebaut wurde, in diesen Jahren vorwiegend in Konservendosen in die Regale der Geschäfte kam.
Susanne Vögeli, eine Köchin im Geiste Elisabeth Fülschers hat sich aufgemacht, als Mentorin, das Fülscher-Kochbuch dem aktuellen Zeitgeist anzupassen. Entstanden ist Fülscher heute, ein interessantes kulinarisches Geschichtswerk der etwas anderen Art. Ein erstes Hineinblättern lässt Ratlosigkeit aufkommen, vermeintliches Chaos erkennen. Bei längerer und detailierterer Betrachtung offenbart sich dann ein Ordnungsprinzip, eine Struktur, die dem Vorbild Fülscher nahekommt. Es ist eine Annäherung in 15 Kapiteln. Dabei kommen acht Autorinnen und Autoren zu Wort, die sich in den kapiteleinleitenden Texten mit Kochthemen im gesellschaftlichen Kontext als auch mit dem Fülscher Kochbuch auseinandersetzen. Da geht es um traditionelle Koch- und Esskultur, um das Karge im Sinne von Not, um das Fremde, das Küchenkulturen von Indien bis Spanien umschließt, um die 50er Jahre, um das Echte, um das Tier oder um das Süsse, einem Statussymbol im Wandel usw.. Jedem Kapitel aber vorangestellt ist eine Collage der Künstlerin Sonja Dietiker, die sich der gezeichneten Elemente aus dem Original bedient. Dann folgt der Beitrag und blockweise Foodfotos sowie die weiterentwickelten Rezepte mit ausführlichen persönlichen Anmerkungen seitens Susanne Vögelis.
76 Rezepte aus einem Fundus von über 1756 sauber sortierten und durchnummerierten im Originalkochbuch wurden ausgewählt. Sie decken mehr oder weniger alle Kochfelder ab, von der Apfelwähe bis zu gratinierten Zwiebeln. Rezepte die sich einfügen in die aufgeworfenen Themen. So finden sich Ochsenschwanzsuppe und ungarisches Gulasch beim Tierkapitel wieder, stehen die Karottensuppe und der Schmorbraten als Vorbilder für heimische Düfte, firmieren die falsche Schildkrötensuppe und der falsche Salm für Täuschung und Kurioses, während das Opulente im Spannungsfeld von Anspruch und Wirklichkeit mit einem russischen Salat und der Rindszunge an Madeira abgebildet werden. Susanne Vögeli hat das Gespür für das richtige Rezept und seiner neuen Auslegung, was einer Spiegelung unserer Esskultur gleichkommt. Den Kochanleitungen stellt sie ihre Gedanken, Erinnerungen, Erlebnisse und Beobachtungen aus der Küche, am Tisch oder beim Einkauf der Lebensmittel zur Seite. Es sind Miniaturen, Kurzgeschichten die zu einem besseren Verständnis der Fülscherrezepte beitragen und gehen, so, weit über das Übliche in Kochbüchern hinaus. Spätestens jetzt sollte klar sein, dass hier eine Retrospektive vorliegt, eine Hommage an Elisabeth Fülscher, welche aufzeigt, wie modern sie heute ist. Früh nahm sie das nose to tail-Prinzip vorweg, setzte Qualitätsstandards und auf Effizienz mit dem Hang zur Sparsamkeit.
Ein kurzer Exkurs: Elisabeth Fülscher war nie Hausfrau, hatte keine eigene Familie. Sie war eine Unternehmerin in einer männerdominierten Welt, in der sie sich behauptete, vorausschauend, klug und clever. Zudem konnte sie sich den gesellschaftlichen Umständen anpassen, adjustierte ihre Kochschule und ihr Kochbuch an zeitgeistigen Trends.
Susanne Vögelis Umgang mit Fülscher ist ein respektvoller mit Augenmaß. Sie bricht das Formale im Original auf, die strenge Strukturiertheit, lässt persönliche und wissenswerte Informationen einfließen. Für die Maisschnitten hat Susanne roten Tessiner Mais – Rosso del Ticino – eingekauft. Die rote Farbe, erfährt man im wissenswerten Vorspann, hängt mit dem Pflanzenstoff Anthocyan zusammen. Die einfachen Maisschnitten sind Ausdruck der Cucina povera und werden mit Gorgonzola oder einem anderen aromatischen Käse aufgepeppt.
Im vierten Kapitel befasst sich Samuel Herzog mit dem Fremden in heimischen Küchen. Da erfährt man, dass Elisabeth Fülscher 1960 beschloss, den Speisezettel ihrer Leserinnen und Leser um „Geheimnisse aus fremdländischen Kochtöpfen“ zu bereichern. Ergänzte also ihr Repertoire mit einigen geheimnisvoll klingenden Rezepten wie Salade Mexicaine, Türkisches Pilaw, Nasi Goreng wie auch Charlotte Russe. Letzteres ist ein Tortengebilde das der französische Konditor Marie-Antoine Careme im 17. Jahrhundert kreierte. Susanne hat die Charlotte Russe für ein Weihnachtsfest zubereitet, auf das sie geladen war. Die Erschütterungen beim Transport mit dem Fahrrad überstand Charlotte Russe problemlos und imponierte an diesem Abend die drei Kinder der Gastgeberfamilie mindestens so sehr wie der leuchtende Weihnachtsbaum.
Das Kochbuch Fülscher heute von Susanne Vögeli ist eine sehr originelle Auseinandersetzung mit einem Klassiker. Zweifellos bedeutet dies Arbeit für die Rezipienten, die die Fülscher heute als kulinarisches Geschichtsbuch lesen. Wem das zu viel ist, der kann sich auf die Rezepte beschränken, die zum Teil originell und sehr gut dem aktuellen Kochtrend angepasst sind. Die Haselnusstängelchen haben abgespeckt und enthalten um ein Drittel weniger Butter und Zucker. Zum Blumenkohl zählt Fülscher unter der Nummer 470 fünf verschiedene Arten der Zubereitung auf. Viel Spielraum bleibt da für eine Neuinterpretation nicht mehr. Und doch präsentiert Vögeli ihren in dünne Scheiben geschnittenen Karfiol auf eine Art, die früher undenkbar war. In der Bratpfanne gebraten, bis sie leicht gebräunt sind und damit kräftige Röstaromen bekommen, werden die Kohlscheiben wie ein wissenschaftliches Präparat auf Tellern angerichtet und mit einer Marinade aus Honig, Zitrone und Rapsöl serviert.
Fülscher heute ist ein höchst vergnügliches Koch-Lese-Buch mit einer Fülle an Wissenswertem, für das man einige Zeit einplanen sollte. Susanne Vögeli ist mittlerweile die Besitzerin des Fülscher Kochbuchs, und dafür verantwortlich, dass die Rezepte dem Diktat der Zeit anpasst werden. Die aktualisierten Fülscher-Rezepte sind im Internet abrufbar. Susanne Vögeli führt das Lebenswerk ihres Koch-Idols weiter, stellt sich den gesellschaftlichen Ernährungsfragen jenseits einer Sternenküche. Kochen ist nichts Geschlechsspezifisches und an keine Lebensform gebunden, lässt uns Autorin und Herausgeberin am Ende wissen. Und präsentiert dazu Rezepte für rohen Randensalat, Kartoffelgnocchi, Gedämpfte Forellen en papillotes, Rosenkuchen. Wenn das keine Aufforderung ist, den Schreibtisch zu verlassen um in die Küche zu eilen …