Heute reise ich nach WIEN.
In der Wiener Innenstadt, im Kleinen Café am Franziskanerplatz, genehmige ich mir eine Melange, während ich auf Andrea Karrer warte. Der Betreiber des Kleinen Café, Hanno Pöschl und Mann von Andrea, denkt sich jedesmal, wenn er über die ausgetretenen Stufen in sein 400 Jahre alte Gewölbe eintaucht: „Heast, ist das ein schönes Lokal!“ Und während Hanno sich auf die Gäste in seinem Lokal konzentriert, hole ich mir Andreas neuestes Kochbuch, Karrers köstliche Küche, aus der Tasche, um darin zu blättern.
Meine 750 besten Rezepte vermeldet der Untertitel. Eine Art „Grundkurs“ über Kochen will dieses 460 Seiten starke Werk sein.
Inhaltlich ist es in drei große Hauptkapitel gegliedert. Kalte Gerichte werden von Warmen Gerichten abgelöst und nachgereicht sind dann noch die Süssen. Am Schluss, ein Anhang, der Ordnung bringt in die Mengenangaben, Zahlen, auf die jeder Koch und jede Köchin einen Blick werfen sollte. Diese Zahlen zur kulinarischen Mengenlehre sind sehr nützlich, und sie aufzufrischen kein Schaden. Wussten Sie, dass 1 EL Butter/Margarine/Schmalz 15-20 g und 1 EL Haferflocken, je nach Stärke 5-10 g sind.
Andrea Karrers Anspruch und Ansatz sind nicht neu. Als Basis dient die Wiener Küche und die beweise seit Jahrhunderten, dass sie durch Veränderung lebt, behauptet die Autorin. Die Essgewohnheiten der Wiener sind durchdrungen von vielen Regional- und Nationalküchen, in ihr finden sich niederösterreichische, alpine, tschechische, ungarische und türkische Speisen. Aber auch Armenier, Polen, Griechen, Franzosen und andere Weltbürger haben sich in die heutige Esskultur Wiens hineingekocht. Und so ist Karrers Kompendium eine Sammlung von Rezepten, die eine genussvolle und vorurteilsfreie Alltagsküche vermitteln will.
Die Kalten Gerichte sind aufgeteilt in die vier Unterkapitel: Buttermischungen, Saucen, Salate und Vorspeisen. Warum die Butter an erster Stelle steht, ist klar. Die Butter ist Geschmacksträger und leicht manipulierbar mit Kräutern, Knoblauch, Senf, Sardellen und anderen Zutaten. Die Menge an Zutaten ist überschaubar, bis auf die Krebsbutter wie auch Café de Paris Butter nach Christian Petz. Hierfür werden schon mal zwischen ein und eineinhalb Kilogramm des weißen Goldes verarbeitet und der Zeitaufwand ist auch nicht zu unterschätzen. An Umfang reicher ist dann die Anzahl an kalten Saucen. Die von der allseits beliebten Mayonnaise angeführte Saucenabhandlung ist der ideale Ausgangspunkt für ein kaltes Büffet. Hier sind bekannte und weniger bekannte Variationen vertreten, wie die Tiroler Sauce, die Cumberland Sauce, die mexikanische Guacamole oder Sauce Gribiche, eine Vinaigrette, die manch französischer Koch mit einem Eigelb verrührt, um sie dann mit Stelzen aufzutischen. Karrer macht sie klassisch mit hartgekochten Eiern und empfiehlt sie zu gebackenem Kalbskopf, Fleischfondue, Burger, Roastbeef und Spargel. Die Salatbar eröffnet sie mit einem alten vermutlich spanischen Sprichwort, das besagt, dass zur Herstellung eines vollkommenen Salates fünf Menschen benötigt werden: Einen Geduldigen, der die Kräuter verliest, einen Verschwender, der das Öl spendet, einen Geizhals, der den Essig zumisst, einen Weisen, der das Salz abwägt, und einen Narren, der alles gründlich durcheinandermengt. Meines Erachtens fehlt hier noch einer, und zwar der, der alles aufisst. Ehe wir eintauchen in die Welt der Salate, gibt es aber Tipps und erfahren wir Grundlegendes über Blattsalate wie auch die Mischungsverhältnisse einiger einfacher Salatmarinaden. Diese Tipps sind komprimierte Wissenspakete und ziehen sich, meist den einzelnen Kapiteln vorangestellt, durchs ganze Buch. Man könnte sie als persönliche Handschrift von Andrea Karrer bezeichnen, ein Erfahrungsschatz, der sich über Jahrzehnte des Kochens angereichert hat und hier geballt zum Ausdruck kommt. Beispiele gefällig? Zwiebeln sind ein wichtiger Geschmacksträger für Salate. Zuerst wird der Zwiebel in feine Würfel oder dünne Ringe geschnitten, anschließend mit Salz bestreut oder gleich zur Marinade gegeben. Dadurch wird verhindert, dass der Zwiebelsaft oxidiert und einen unangenehmen Geschmack oder Geruch annimmt. Und wie sieht es mit der Prise Zucker im Salat aus? Die meisten Salate benötigen, um harmonisch zu schmecken, einen Hauch Zucker. Läuterzucker rundet Salatsaucen geschmacklich wesentlich schneller und wirkungsvoller ab als Streuzucker. Für den Läuterzucker werden 2 Tassen Zucker mit 2 Tassen Wasser aufgekocht, bis die Flüssigkeit etwas eindickt. In eine Flasche mit Schraubverschluss gefüllt bleibt der Läuterzucker, sehr lange haltbar. Und dann folgen rund ein Dutzend Salate. Vom französischen Gemüsesalat bis zum Wiener Erdäpfelsalat sind hier alle wichtigen Vertreter versammelt, selbst der Caesar Salat und auch der Ochsenmaulsalat.
Bei den kalten Vorspeisen angekommen, und ich bin erst auf Seite 40 von 450 Seiten, stelle ich zufrieden fest, dass die Autorin auch alte Kochbücher zu Rate zieht. In gewissem Maße also auch Kochgeschichte betreibt. Anna Dorn etwa widmet in ihrem 1827 erschienenen „Neuestes Universal oder Großes Wiener Kochbuch“ den Vorspeisen kaum Raum. Für Andrea Karrer hat diese Reserviertheit einen tieferen Grund: Da der Österreicher die Suppe sehr nahrhaft gestaltet, verzichtet er meist auf eine zusätzliche Vorspeise. Erst in der „Prato“ oder bei Rokitanskys „Die österreichische Küche“ tauchen kurze Kapitel zum Thema Vorspeisen auf. Neben Klassikern wie gefüllte Eier oder Beef Tartare sind auch Gäste aus dem befreundeten Ausland vertreten, etwa Vitello Tonnato oder Liptauer, der mit Brimsen, einem brösligen Schafskäse, zubereitet wird wie bei den slawischen Nachbarn. Viele dieser Vorspeisen eignen sich auch für ein feines Picknick. Ob das nun der Hühner-Currysalat ist oder Tante Annis gefüllter Wecken. Diese kalten Vorspeisen heben die Esslaune, ob in Vorfreude auf den Hauptgang oder bei einem vergnüglichen Picknick in der grünen Wiese.
Der Übergang von kalt zu warm erfolgt flüssig. Nein, nicht Alkohol, sondern Suppen eröffnen uns die Mahlzeit. Daher werden wir einer schmackhaften Bereitung derselben, schrieb die bereits erwähnte Anna Dorn, um so mehr Aufmerksamkeit schenken müssen. Und dieser Flüssignahrung widmet sich Andrea ausführlichst, gilt es hier doch einiges zu berücksichtigen. Fast schon in gewohnter Weise wird alles Wesentliche auf einen Blick, auf eine Seite zusammengefasst, was das Würzen, Abseihen von Suppen und einiges mehr anbelangt. Die Suppenrezepte sind in die Kategorien Klare Suppen, Suppeneinlagen, Cremesuppen, Einmach- und Einbrennsuppen sowie Spezialsuppen aufgeteilt. Zu Letzteren zählen die Stosuppe, die in Niederösterreich und der Steiermark früher eine beliebte Fastensuppe war, wie auch die Altwiener Erdäpfelsuppe, die von Andrea etwas feiner, ohne Schweinsknochen oder Schweinsschwarte zubereitet wird. Die Knoblauchsuppe ist mir zu aufgepeppt, mit Schlagobers angepasst an heutige Vorlieben. Wer einmal eine provenzalische Knoblauchsuppe gegessen hat, die reduziert auf Wasser, Knoblauch, Salz und Salbei alles enthält um vollkommen zu sein, der weiß sich im Umamihimmel, japanisch ausgedrückt. Hier gilt, die Suppe, die man sich einbrockt, muss man selbst auslöffeln. Und gerne leere ich alle Suppenteller mit Karrers Suppenvorschlägen. Die Fischbeuschlsuppe als auch die Dinkelsuppe mit Rosmarin werden demnächst ausprobiert.
Dem Suppenkapitel folgen dann warme Fonds & Saucen, weiters kleine Gerichte, die sich in warme Vor- und Eierspeisen splitten. Einige Seiten weiter gilt das Hauptaugenmerk den Beilagen, dem die umfangreiche Abteilung Gemüse von A-Z folgt. Nudeln & Risotto, Fleisch, Fisch & Co, Hausmannskost und Karrer International sind weitere Themenschwerpunkte.
Hier springe ich zu den Eierspeisen. Nicht nur weil diese ‚geschissene Gottesgabe‘ ein Symbol der Fruchtbarkeit, des Lebens ist. Nein, auch weil das Ei ein Universalgenie in der Küche ist, dem mehr Augenmerk und Kochzeit geschenkt werden soll, wie die Autorin richtig anmerkt. Den Tipp, pochierte Eier in einem Stanitzel aus Pergament (das ist ein spitz zusammengedrehtes Papiersackerl, wie es die Obsthändler gerne verwenden) zu machen, fand ich sehr lustig: meine Nachahmung war auch erfolgreich! Das Rezept, aus einem alten Kochbuch entlehnt, heißt deshalb Zipfelmützeneier. Das Käseomelett gelingt problemlos wie auch die gebackenen Eier, die auf französischem Gemüsesalat herrlich schmecken. Für Letzteres benötigt man wachsweiche Eier; wie diese gekocht werden, ist nachzulesen unter der Rubrik Gekochte Eier – so gelingt’s! aus der Abteilung Wissenswertes.
Die Beilagen, die nun folgen, umfassen drei Bereiche: Gemüse-, Sättigungsbeilagen und Erdäpfel. Letztere nehmen hier eine Sonderstellung ein, was mit zig Ausformungen an Kartoffelgerichten bestätigt wird. Ob gebraten, püriert, als Schmarren, Gnocchi, Pommes oder Buchteln, hier zeigt die eingewanderte Südamerikanerin genussvoll ihre Wandlungsfähigkeit. Erwähnt sei noch, dass unter Sättigungsbeilagen vor allem Knödel, Nockerln, Reis- und Maisgerichte vereint sind. Hier sei exemplarisch auf zwei Gerichte verwiesen. Das Oberländer Kasmuas ist eine beliebte Tiroler Speise, die früher vor allem von der Bäuerin in einer tiefen ‚Muaspfanne‘ angerichtet wurde. Die Pfanne stand dann mitten auf dem Tisch und alle saßen gemeinsam drumherum und löffelten daraus. Die süße Variante ohne Kas dafür mit Milch ist in Tirol als ‚Tirgemuas‘ (Türkenmus oder Maismus) bekannt. Dieses Rezept, noch um Eier und Aromastoffen erweitert, ergibt einen Grießauflauf, wie er in der Abteilung Auflauf, Soufflé & Co präsentiert wird. Auch ein übrig gebliebenes Essen vergangener Zeiten ist der Striezelauflauf, ein Purist und quasi Vorläufer des Scheiterhaufens, welchem wir ebenfalls weiter hinten, sogar mit einer Schneehaube, begegnen.
Beim Gemüse von A-Z, das den Beilagen nachgereiht ist, merkt die Autorin einleitend an: Etwas kleinere, unregelmäßige Gemüsefrüchte sind meist „naturnäher“ gezogen und haben mehr Geschmack. Aufgefallen ist, dass der Karfiol sich weiter im Höhenflug befindet. Sechs Gerichte lassen den Blumenkohl zum Hauptakteur einer ideenreichen Alltagsküche avancieren. Vom Mangold, dem ewigen Zweiten hinter dem Spinat, hätte ich mir ähnliches erwartet. Eine Überraschung war der Lauch-Birnen-Strudel, der zu einer Quiche umgewandelt, meine Besucherschar mehr als entzückte. Die hier vorgestellten Gerichte, alphabetisch gereiht, reichen aus, um der Familie 75 Tage lang vegetarische Speisen zu kredenzen, ohne dass es langweilig wird oder zu Wiederholungen kommt.
In den weiteren Kapiteln finden sich bekannte und weniger bekannte Rezepte aus heimischen und anderer Länder Küchen. Risotti und Pastagerichte, diverse Schnitzeleien, Braten aller Art, ob gerollt oder geschmort oder gespickt, selbst der Wein in der Küche sind kulinarische Angebote, die nur die Entscheidung verlangen: Was koche ich als nächstes? Kalb, Rind, Schwein, Geflügel und Wild wie auch Lamm, Innereien und diverse Fische stehen im Mittelpunkt vieler Seiten. Diese Fülle an Rezepten verwandelt Karrers köstliche Küche bereits zu einem Nachschlagewerk und Ideengeber für den Küchenalltag.
Dabei kam der dritte Hauptteil noch gar nicht zur Sprache. Er widmet sich den Süssen Gerichten und enthält alte Bekannte wie den Schmarren in all seinen Ausschweifungen, Palatschinken, Aufläufe, Soufflés, süße Knödel, Mohnnudeln, Brand- und Backteigiges, Pofesen, aus Germteig Produziertes sowie Strudel aller Art. Ein Füllhorn an Mehlspeisen, die sowohl als letzter Gang als auch als süße Hauptspeise serviert werden. Entdeckt habe ich da für mich den Rahmschmarren von Tante Anni, in welchem Sauerrahm untergerührt und mit Vanillemark und Zitronenabrieb verfeinert wird. Das sollte reichen, fürs Erste und in dieser Besprechung fürs Letzte.
Karrers köstliche Küche, ist eine wunderbare, gut gelungene Rezeptesammlung für den Küchenalltag, die auch einige Überraschungen bereithält. Die Rezepte sind klare, verständlich geschriebene Anleitungen, die keine Missverständnisse aufkommen lassen – somit jeden Nachbau zu einem Erfolg machen. Einige Rezepte, wie bspw. die Marillenknödel aus Erdäpfelteig sind zum besseren Verständnis mit Fotostrecken unterlegt. Überrascht stellte ich fest, dass alle Speisenfotos von Stockfood sind, also nicht die Gerichte der Autorin wiedergeben. Dass das kaum auffällt, ist dem Layout zu verdanken. Was dem Kochbuch zusätzlich eine Spur Verspieltheit verleiht, sind die eingestreuten Miniaturabbildungen. Im Vordergrund aber stehen die Rezepte. Sie sind der Garant für gutes Essen, die Teil unserer Lebensfreude sind. Karrers köstliche Küche bringt Menschen zusammen, die genießen wollen, da bin ich mir sicher. Wie auch, dass ich dieses Kochbuch noch sehr oft aus dem Regal ziehen werde, um nachzuschlagen oder auf der Suche nach einer Idee. Wer will nicht seine Familie und seine Freunde kulinarisch beglücken!
Nachzutragen wäre: Andrea Karrer habe ich nicht getroffen. Zu schnell war die Zeit verflogen und zu sehr habe ich mich in ihr Kochbuch vertieft …