Heute reisen wir nach NORDDEUTSCHLAND.
Denk ich an den Norden Deutschlands, dann fällt mir zuerst die niederdeutsche Sprache, das Plattdeutsch, ein. Dann die Hansestädte Bremen und Hamburg sowie die Lüneburger Heide. Nicht zu vergessen die Austernfischer, Wattwürmer und vor allem die Deichschweine. Schafe von putzigem Aussehen, die die Salzwiesen entlang der Meeresküste abgrasen. Und damit bin ich unweigerlich beim Essen angekommen. Labskaus mit Spiegelei, Essiggurke und Rollmops fallen mir zu der liebsten Speise der Norddeutschen ein. Ein bodenständiges und sättigendes Gericht. Aber das war‘s auch schon. Eigentlich sollte ich dazu einen Norddeutschen befragen. Ben Perry vielleicht. Er hat das Kochbuch norddeutsch by nature verfasst, das im Christian Verlag erschienen ist.
Perry ist staatlich geprüfter Gastronom, Küchenmeister, Autor und leitet eine Kochschule. Nach eigenen Angaben ein strenger Verfechter der regionalen und saisonalen Küche. Auf die Frage, ob es eine norddeutsche Küche gibt, folgt ein eindeutiges Ja. Die norddeutsche Region, die geprägt ist von Küsten und Gezeiten, Natur, Wind und Wetter, definiert sich über das Klima. Und Perry grenzt in seiner Einleitung diesen Ansatz noch stärker ein. Das Wesen der norddeutschen Küche liegt zum einen in der Tradition, nach alten Rezepten zu kochen, und zum anderen in der sprudelnden, rauen, blühenden und salzigen Natur. Damit sind die Ingredienzien festgehalten, die dieses neue norddeutsche Kochbuch prägen. Aber damit nicht genug. Der Autor ist die Küste abgefahren – von Norderney an der holländischen Grenze bis nach Stralsund auf der Höhe Berlins -, um Menschen zu treffen und mit ihnen zu reden und zu kochen. Herausgekommen ist ein Kochbuch über die neue Küche aus Deutschlands Norden, wie es der Untertitel verspricht. Den Impuls dazu gab wohl ein altes Kochbuch aus dem Nachlass seiner Uroma. Das Übersetzen der in Sütterlin verfassten Schrift war der erste Schritt dieser Entdeckungsreise. Dieser alte Schatz aus Lüneburg diente wohl als Referenz bei der Erkundung der neuen Regionalküche.
Zwei wesentliche Zugänge prägen norddeutsch by nature. Da sind einmal die Rezepte, die sich auf zehn Kapitel verteilen. Zwischendurch kommen Menschen zu Wort, die essenziellen Anteil haben an der norddeutschen Esskultur, weil sie Typisches dieser Region produzieren. Bspw. Gunnar Hesse, der die Amrumer Wildauster sammelt und seinen Gästen serviert. Sönke Magnus Müller züchtet Texel-Lämmer und beliefert damit die Spitzengastronomie. Eckart Brandt ist Apfelbauer und weltweit anerkannter Pomologe. Er kultiviert nicht nur alte Apfelsorten, er will sie mit allen Mitteln erhalten. Insgesamt sind es neun Begegnungen, mit Menschen die durch ihre Produkte norddeutsche Kultur mitprägen. Ob Rohmilch-Käse, ob Scholle oder Markrele, ob ein ÜberQuell- Bier aus St. Pauli – das alles wandert in den Einkaufskorb und in die Küche Perrys. Ein kurzer Spik auf Omas Rezepte, dazu ein wenig Experimentierfreude und schon entsteht etwas Neues. Es sind Gerichte von urig bis modern, pfiffig, schön bunt, frisch und immer köstlich. Sinnlich erlebt mit Kabeljau im Bierteig mit Kerbelmayonnaise und Radieschensalat, denn da mussten mein Enkel Jakob und ich über die halbierten roten Wurzeln mit den grünen Stängelstümpfen lachen, die uns an Marienkäfer erinnerten.
Die kleinen Gerichte im ersten Kapitel sind keine klassischen Vorspeisen, die sind in Norddeutschland eher unüblich. Hier treffen traditionelle Kombinationen auf neuen Zeitgeist und ergeben die saure Krabbenstulle, die Hannoversche Erbsensuppe mit pochiertem Ei, das Büsumer Rührei mit Bratwurst und noch einige andere eigenständige kleine Verführer. Und schon sind wir mitten in der norddeutschen Küche.
Im zweiten Kapitel erfahren wir, was vom Kutter, dem Schipp zu bekommen ist und wie es verwertet wird. Das glauben wir dann zu kennen und doch ist es ganz neu. Die Matjes im Brötchen mit Zwiebel und Apfel-Chicorée-Salat oder wie schon erwähnt, den Kabeljau im Bierteig mit Kerbelmayonnaise und Radieschensalat. Es steigert sich dann weiter von Süßsauer zum Klassiker, zum Küstengarten, dem Eintopf über Am Feuer zu Oma Meta, den Rezepten von 1910 bis heutzutage – das sind die Kapitelüberschriften. Am Ende steht das plattdeutsche Schnökern für Naschen, mit Rezepten, die uns beim Durchlesen bereits den Mund wässrig machen. Vor dem ausführlichen Register werden uns noch drei Grundrezepte von Gemüse-, Fleisch- und Fischfond präsentiert.
Sowohl das Gekochte als auch die Menschen und Landschaften sind schön fotografiert. Was bereits eine freudige Stimmung aufkommen lässt.
Die Erwartung wird eingelöst vom Steckrübeneintopf mit Kochwurst, Liebstöckelöl und Schnittlauch. Der war nicht nur bei den Erwachsenen ein Hit. Tipp: Hier lohnt sich die doppelte Menge zu machen und den Rest im Glas einzulagern.
Aus Oma Metas Aufzeichnungen probierte ich auch Bohnen und Apfel, einen deftigen Salat, der – mit und ohne Speck zubereitet – sowohl Vegetarier als auch die anderen begeisterte. Unbedingt ausprobieren musste ich auch die Orangenmarmelade mit Pfeffer. Oma Meta hatte wohl nicht nur das Salz für die Suppe, sondern auch den Pfeffer für die Würze und vielleicht das Feuer der Liebe entdeckt. Jedenfalls verleihen die Pfefferkörner der Orangenmarmelade einen besonderen Pfiff. Ein schnörkelloses Rezept, dessen Zutatenliste sich auf Orangen, Zucker, Wasser und Pfefferkörner beschränkt. Allerdings nahm ich für die Orangenmarmelade weniger Zucker und das war gut so.
Überhaupt fällt auf, dass Perry gerne und immer wieder in seinen Rezepturen Zucker verwendet. Ob in den Mehlklößen, ob im Kopfsalat mit friesischem Sahnedressing, ob in der Lammkeule – eine Spur Zucker ist immer dabei. Selbst in den Grundrezepten diverser Fonds – und das ist mir dann doch zuviel an süßer Geschmacksverstärkung, vor allem wenn er karamellisiert wird.
Außer vegetarischen gibt es einige Fleisch- und Fischgerichte. Um zwei herauszugreifen: Der Salzwiesenlammrücken gegrillt, mit Fichtenbett und Bohnensalat lässt die Herzen der Genießer von Schaffleisch höher schlagen. Wie sich auch der Puls der Fischfans beschleunigt beim Anblick des Steinbutt mit Algen-Orangen-Salat. Perry nahm auch Inspirationen anderer Kochkulturen auf und kreierte bspw. eine Ceviche der Meerforelle mit Rogensalat und Bärlauchpesto.
Das Reise-Kochbuch norddeutsch by nature ist eine Einladung zu einem kulinarischen Küstentrip an die Nord- und Ostsee. Mit an Bord sind Menschen, deren Produkte für ihre Region typisch sind. Etwas ausführlichere und tiefgründigere Personenbeschreibungen hätte ich mir gewünscht. Vor allem die standardisierten Fragen ergeben ein sehr oberflächliches Bild von Steffen, Lutz, Olaf und den anderen. Es sind zudem alles Männer, keine einzige Frau ist dabei.
Ein Wermutstropfen: Der Anspruch ‚neue Küche aus Deutschlands Norden‘, wie der Untertitel verspricht, ist zu hoch gegriffen. Man kann nicht erkennen, was neu und was klassisch ist, weil Benjamin Perry alle Rezepte überarbeitet hat. Abgesehen davon aber sind Perrys Rezepte ideen-, abwechslungsreich und einfach umzusetzen. Auch die Zutaten sind mit wenigen Ausnahmen, wie bspw. das Salzlamm oder die Hamrumer Wildauster, überall erhältlich. Viele der verwendeten Ingredienzien sind Ausdruck typisch Schleswig-Holsteiner-, Bremer-, Hamburger- und anderer norddeutschen Küchen. In diese einzutauchen ist vergnüglicher Genuss.