Heute reisen wir ins ÖSTLICHE MITTELMEER.
Das umfasst die Ägäis und einen südlichen Rest- teil des Mittelmeeres bis auf die Höhe der Libanongrenze zu Israel, inklusive Zypern. Also hauptsächlich Türkei und Griechenland samt Inseln. Auf den ersten Blick Regionen der Gegensätze, wenn man davon ausgeht, dass von den Nationalisten auf beiden Landesseiten Angst geschürt wird. Die sichtbare Folge ist erhöhte militärische Präsenz entlang der Küstenbereiche.
Nirgendwo habe ich so viele ausgebaute Stellungen und Militärs gesehen wie auf Lesbos und anderen griechischen Inseln. In dieser Pufferzone zwischen Orient und Okzident gab es über die Jahrhunderte hinweg immer wieder blutige Auseinandersetzungen und große Seeschlachten. Aber auch ein friedliches Miteinander, lebten doch bis ins 20. Jahrhundert viele griechische Familien auf türkischem Boden entlang der Küste von den Dardanellen, nahe Canakkale bis Foca, das auf der Höhe von Rhodos liegt. Sichtbarer Beweis für die friedfertige Coexistenz sind die vielen kulturellen Zeugnisse, die von antiken Mauerresten bis zu sozialen Ausformungen der Esskultur reichen. Am nachhaltigsten manifestierte sich das Gemeinsame aber wohl unter einem Begriff: Meze. Das sind jene kleinen Appetithäppchen, die die Italiener als Antipasti, die Spanier Tapas und die Franzosen Horsd’oeuvre nennen. Ein Häppchen, das keine Grenzen respektiert, selbst im fernen China kennt man den kleinen kulinarischen Appettitzügler als dim sum, der gerne zum Tee serviert wird. Allerdings wird Meze etwas weitergefasst, nicht nur als Beigabe zu einem Getränk.
Die Schweizerin Gabi Kopp, vom Brotberuf Illustratorin und Cartoonistin, ist auch eine leiden- schaftliche Köchin mit Hang zur orientalischen Küche. Sie schrieb und illustrierte das wunderbare Kochbuch, Meze ohne Grenzen. Es ist im Rotpunktverlag erschienen und, der Titel deutet es bereits an, mehr als nur eine Rezeptesammlung. In diesem Meze-Kochbuch spürt die Autorin den kleinen Essgewohnheiten griechischer, türkischer und libanesischer Menschen nach. Sie eint die Liebe zur Kostprobe respektive Bissen, so die persische Bedeutung für meze. Dafür hielt sich die Autorin längere Zeit in diesen Ländern auf. Schloss Freundschaften, schaute in die Kochtöpfe, notierte Zutaten und zeichnete Alltagssituationen sowie Portraits und darüber hinaus alles, was auf die Teller kam. Es ist ein zu Papier gebrachtes Lebensgefühl. Denn Meze ist für viele der von Kopp befragten Köchinnen und Köche ein Ausdruck des Zusammenseins, des Teilens von frischen Nahrungsmitteln. Meze, schreibt die Autorin im Vorwort (Seite 7), ist der Geschmack im Gaumen und die Freude im Auge. Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen. Dass es so sein muss, erschließt sich mir dann beim Durchblättern. Tellerfertiges, dargestellt in pastellfarbenen zarten Tönen, das mir den Mund wässrig macht.
In vier großen Kapiteln fasst die Autorin das ganze Universum der Meze zusammen, wobei der vegetarische Anteil der größte ist, gefolgt von Meze Fisch und Meeresfrüchte, dann Meze Fleisch und am Schluss Süßes nach Meze.
Aber es beginnt, wie auch die frühe Menschheitsgeschichte, mit dem Sammeln. Essbare Wild- pflanzen sind vielerorts die Grundlage der Mezegerichte. Kopp versteht es, mehr kursorisch, Impulse zu setzen, etwa welche Regeln beim Sammeln zu beachten sind, was alles verwertet werden kann, welche klassischen Zubereitungsarten es gibt. Dem folgen dann Rezepte mit Lö- wenzahn, Wildfenchelkraut, Wildspargel usw. Die Wildarten können auch problemlos durch die kultivierten Varianten ersetzt werden.
Eingestreut in die Rezeptsammlung sind kurze Portraits von Menschen, die Kopp auf den Reisen kennen lernte. Würden die Orte wie Lichtpunkte aufleuchten, würde ein geographischer Korridor sichtbar, der Thessaloniki mit Beirut verbindet. Auf dieser Achse sind bewegende Einzelschick- sale anzutreffen, die Mikroräume mit Leben füllen und in Summe jenes bunte Mosaik ergeben, das wir vereinfacht als Vorderen Orient bezeichnen. Kopp illustriert ihr Kochbuch mit Köchen und Köchinnen in zufriedenen, lachenden Gesichtern und stolzen Posen vor ihren Mezen. Die Men- schen schwarzweiß, die Mezegerichte bunt, wodurch die bildhafte Erscheinung eine räumliche Tiefe bekommt, was die Fotografie nur selten erreicht. Und das gibt dem Kochbuch einen sehr eigenen Charme.
Die Menschen, die Gabi Kopp auf ihrer Reise kennen lernte, sind so unterschiedlich wie Künstler und Technokraten und doch haben sie eines gemeinsam – sie brennen für Meze. Mehr noch: Sie erzählten von ihrem Leben, gaben ihre Mezerezepte weiter und wahrscheinlich auch manches Küchengeheimnis. Es sind berührende Geschichten von Menschen, die ihr Leben mit Meze meis- tern, für die Meze gar Lebensentwürfe sind.
Da ist Meray, eine Dorffrau, die alle Kräuter der Umgebung kennt und deren Meze-Restaurant zu einem Treffpunkt für Intellektuelle aus der Stadt wurde. Da ist Nihal, die als Literaturprofessorin mit 40 Jahren pensioniert wurde und mit ihrer Tochter das Ayna eröffnete, einen Platz zum Essen, Trinken und Sitzen. Ihre Brennnesselsuppe (Seite 26), wird mit Minze, Milch und Sauerrahm ver- feinert. Da ist Yiannis, ein studierter Philosoph, dessen marinierte Auberginen mit Honig (Seite 45) mir diese Eierfrüchtchen neu erschlossen haben. Da ist auch Ummuhan, die nach Bodrum zog und in ihrer Freizeit Kochmagazine studierte, die Rezepte nachkochte und heute ein gut gehen- des Restaurant führt. Ihre Küche ist eine Mischung von weitergegebenen Familienrezepten und eigenen Kreationen. So mischt sie gerne Früchte und Trockenfrüchte mit Gemüse und Fleisch. Ihre Kochkünste machten sie so berühmt, dass sogar die Maltepe-Universität Istanbuls auf sie aufmerksam wurde und sie einlud, ihr umfangreiches Wissen über ägäische Meze und türkische Küche an StudentInnen weiterzugeben. Von der Kioskfrau zur Universitätsdozentin dank Meze. Welche Köstlichkeit sie aus einem Korbblütler und dem Saft einer Zitrusfrucht zaubert, ist fest- gehalten: Topinambur mit Mandarinensaft (Seite 59) kann kalt oder warm serviert werden. Und wenn keine Mandarinen zur Hand sind, dann funktioniert es mit Orangen genauso gut. Und da ist Vedia aus der Hafenstadt Foca. Ihre Artischocken mit frischen Favabohnen (Seite 54) sind in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen setzt Vedia auf Favabohnen, die bei uns besser bekannt sind als Sau- oder Ackerbohnen und die eine Renaissance erleben, zum anderen sind Artischocken nicht nur wegen des Geschmackes ein Hauptbestandteil des Gerichts. Nein, in der Türkei glaubt man an die die Leber unterstützende Wirkung dieses Korbblütlers, was medizinisch auch bewiesen ist.
Unzählig sind die Personen, denen Gabi Kopp über die Schultern schaute, sie nach ihren Me- ze-Rezepten befragte und diese ausprobierte. Davon wurden 175 traditionelle und innovative Rezepte in ihrem Meze-Kochbuch aufgenommen. Überwiegend sind die Rezepturen einfach, manchmal etwas aufwändiger und gar exotisch, wie etwa der Möchsbartsalat (Seite 74), dessen Grundzutat salsola soda eine Salzpflanze ist. Gelegentlich bekommt man Mönchsbart beim türki- schen Gemüsehändler ums Eck oder an italienischen Marktständen. Statt Mönchsbart kann auch Queller, das ist der Meerspargel oder Meerfenchel verwendet und alle drei Salzpflanzen können übers Internet in Samenform bezogen und zuhause in Töpfen angepflanzt werden. Kopp be- schreibt in eingeschobenen Beiträgen sehr schön und lebendig, ausgewählte Zutaten wie Oliven und Öl, Auberginen, Joghurt, Knoblauch, Weinblätter oder die bereits erwähnten Wild- sowie Salzpflanzen und andere. Aber auch Mastix, ein bernsteinfarbenes Harz des Mastixstrauches, das wegen der mühsamen Kultivierung sehr teuer ist und überwiegend zum Würzen von Feingebäck und Brot dient. Im Meze-Kochbuch finden sich ein süßes und ein salziges Gericht und das ist wahrlich eine Überraschung. Die harzigen Tränen verleihen den Milchpuddingrollen (Seite 267) eine gummiartige Konsistenz; kein Wunder, denn im östlichen Mittelmeerraum wird das Mastix- harz wie Kaugummi gekaut. Hier zeigt sich die Klasse dieses Kochbuchs, denn Mastix ist etwas für Kenner. Neu für mich war die Zubereitung von Miesmuscheln mit Mastix (Seite 211). In der Warenkunde werden neben bestimmten Zutaten auch kategorische Begriffe beschrieben, wie Tatar oder Nayeh, Börek oder Pita, Kebbeh, orientalische Puddings u.a. Vervollständigt wird das Mezebuch mit Hintergrundgeschichten, die die historische Entwicklung der Meze-Kultur in den sozialgeografischen Räumen und vor allem Städten bis ins Heute erzählen. Auch welche Rolle Alkohol und Flüchtlingsströme dabei spielen. Interviews mit Kennern der Landesküchen und ein lyrisches griechisches Kochlied runden dieses Hintergrund-Kapitel ab. Diese äußerst lesenwerte kleine Kulturgeschichte der Meze, Mese, Maaza, oder wie auch immer diese Imbissform in den Ländern heißt, wird am Ende noch um ein ausführliches Glossar und eine Liste häufig verwende- ter Wildkräuter bereichert. Es ist ein nützliches Werkzeug für Wildkräuter-KöchInnen, da mit ei- nem Blick erfasst wird, welche Teile der Pflanze roh oder gekocht verwendet werden. Das Regis- ter puristisch auf deutsch und landessprachlich ausgelegt, beschränkt sich ausschließlich auf die Rezepte. Das ist schade, sucht man doch auch über bestimmte Zutaten geeignete Rezepte. Aber es schmälert in keiner Weise die grandiose Leistung der Autorin. Für alle Reise- und Entdecker- freudigen unter Ihnen, die sich auf Meze ohne Grenzen einlassen, sind unzählige Neuerfahrungen ostmediterraner kulinarischer Genüsse vorprogrammiert. Gebrannte Zitronenmarmelade (Seite 287), süße Spinat-Griess-Schnitten (Seite 265), Hühnerleber mit Granatapfelkonzentrat (Seite 247), das tscherkessische Hühnchen (Seite 223), die Garnelen mit Feta im Tontöpchen (Seite 209), der Weißfisch in Sesamsoße (Seie 188), die Maiskörner mit Zitrone und Kreuzkümmel (Seite 171), das zyprische Olivenbrot (Seite 159) und einiges mehr erweiterten meinen kulinarischen Horizont und den jener, die zu Verkostungen geladen waren, enorm. Raffiniert einfach und farbenfroh scheint die Devise der Mezekultur zu sein. Ihre feinen Duft- und Geschmacksnoten beleben das gesellige Zusammensein. Der Kürbiskuchen aus Thessalien (Seite 49), in Romben geschnittene Happen mit Salbeiblättern dekoriert, war, kaum auf dem Tisch, ratzfatz in den gierigen Mäulern meiner Gäste verschwunden. Ich verbuche das als Erfolg und verrate Ihnen am Ende deshalb die Backanleitung.
Gabi Kopp ist mit Meze ohne Grenzen ein kulturübergreifendes Werk gelungen. Sie vollzieht Völkerverständigung über die kulinarische Ebene. Insgesamt werden 175 Rezepte und Menschen die dahinter stehen, vorgestellt. Ob auf der Flucht, wie Malaak Mohamed Hamadi’s Familie (Seite 242), die zur Zeit im Libanon lebt, oder die Familie von Fatih Helvacioglu im türkischen Edremit, die in 10. Generation Sesam röstet; gemeinsam ist ihnen die Begeisterung für Meze, ihre Vorstel- lung vom Meze-Essen als soziales Ereignis und das Teilen, dh. weitergeben alter Familienrezep- te. Hier werden Waffen durch Kochtöpfe ersetzt, das Essen in Gemeinschaft zur angewandten Friedensmission. Der Schwerpunkt von Meze ohne Grenzen liegt eindeutig in der Ägäis, Syrien und Israel bleiben ausgeklammert. Ein politisches Kochbuch wenn man so will, das Türkei und Griechenland als Hauptbeteiligte friedlich eint und vor allem grenzenlos mundet. Meze ohne Grenzen trägt wahrscheinlich mehr zum Frieden bei als alle Gutwillerklärungen zusammen, auch in mitteleuropäischen Familien und Essgesellschaften. Gabi Kopps Fleiß, die Interviews, das Re- cherchieren, das Zusammentragen, Ausprobieren und Zeichnen der Gerichte, führten zu einem der bemerkenswertesten und interessantesten Kochbuch der letzten Jahre. Auch, weil in Meze ohne Grenzen sich viele Kochkulturen vereinen und deren Umsetzung nur mehr die eigene Phan- tasie die Grenzen setzt. Ein wunderbares Kochbuch, schön illustriert, das man selber haben und weiterschenken muss.