Heute reisen wir nach München und weiter nach Apulien.
In Bayerns Hauptstadt suchen wir Graciela Cucchiara auf, eine jung gebliebene Frau der Endfünfziger-Generation. Ihr Outfit ist farbenfreudig, ihr Gesicht ziert eine Butterfly-Brille. Von letzterer scheint sie eine ganze Kollektion in unterschiedlichen Farbtönen zu besitzen. Man sieht Graziella den Schalk an, immer bereit, etwas Neues auszuhecken. Bekannt geworden ist Graciella als die ‚Garagenköchin‘. Die Kochgarage war legendär, ihr Konzept so einfach wie wirkungsvoll. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass alle Partys in der Küche enden. Und so kochten selbst Spitzenmanager oder die Jungs aus dem Silicon Valley gemeinsam mit anderen Kochinteressierten in ihrer Garage – ganz ungehemmt, glücklich und relaxed. Das Kapitel Kochgarage wurde aber mit Corona stillgelegt. Jetzt befindet sich dort eine Alimentari nach italienischem Vorbild.
Graciellas Lebensweg ist voll von Brüchen und Neubeginnen. Sie erinnert mich an Alfonsina Storni, die wie eine lebhaft flackernde Lampe im Schreiben ihre Erfüllung fand, nur dass Graciela wie ein Seismograph jede Stimmung im Kochen ausdrückt. Beide haben in Argentinien gelebt. Graciela ging nach Italien und dann nach Deutschland. Zuerst studiert sie Psychologie, später Grafikdesign. Viele Jahre arbeitet sie künstlerisch, im grafischen Bereich; zuerst in Mailand und dann bei „Käfer“ in Deutschland. Einige Jahre geht es gut, bis zur Scheidung, die in eine Neuorientierung mündet und die Suche nach der großen Erfüllung. Ihre Vorstellung ist ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen können, um gemeinsam zu kochen, zu essen, zu genießen, aber kein klassisches Restaurant. Die Kochgarage ward geboren; eine Mischung aus kulinarischer Werkstatt und Kochschule. In sie flossen Erinnerungen an das gemeinsame Kochen mit ihrer Oma, später Küchenerlebnisse aus allen Weltgegenden. Prägend aber war schon Omas Küche aus den Marken und vielleicht hat Graciella in Mamma mia, ihrem neuesten Kochbuch, deswegen die italienische Küche in den Mittelpunkt gestellt. Italienische Rezept mit Herz, wie sie im Untertitel betont.
Den Auftakt machen Aperitivi, die ein Barkeeper präsentiert, dessen Namen wir allerdings nicht erfahren. Der Apricot Spritz vermittelt Urlaubsgefühle, die herausleuchtenden Orangen lassen meine Gedanken in den Süden schweifen. Wer mehr Aroma spüren will, für den ist der Joro Spritz keine schlechte Wahl. Hier treffen Johannisbeeren, Rosmarin und Zedratzitronen aufeinander, ein Drink, der sommerliche Sonnenuntergänge in Gracielas Augen spiegelt. Allerdings kommt hier nicht die Urzitrone selbst zum Einsatz, sondern Cedrata, eine Art Limonade von ihr. Im Internet kursieren einige Rezepte, die zeigen, dass Cedrata leicht selbst herzustellen ist.
In weiterer Folge hält sich das Kochbuch an die Menüfolge der italienischen Küche. Antipasti werden von Primi und später Secondi abgelöst, dem Dolce folgen und mit Digestif & Liköre besiegelt werden.
Die Gnocco fritto, also frittierte Hefetaschen, werden befüllt mit Mortadella und Stracchino, einem cremig-zarten Frischkäse aus der Lombardei. Fast schon eine Art Wurstsemmel auf Italienisch. Ebenfalls in der Abteilung Antipasti findet sich Panino 5 e 5, ein klassisches Streetfood mit Auberginen und Peperoni, die auf Weißbrotscheiben angerichtet werden. Wofür 5 e hochgestellt 5 steht, ist nicht zu erfahren.
Es gibt Gerichte, die immer auf die selbe Art und Weise zubereitet werden. Weil man es immer so gemacht hat. Ein solches Gericht ist Vitello tonnato. Auf kleiner Flamme gegart, hier ohne Sellerie, dafür die Thunfischsauce mit etwas Zitronenschale abgeschmeckt. Von diesem piemontesischen Gericht kann man nie genug bekommen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ganz anders ergeht es mir mit dem lombardischen Polpettone di Pane. Das ist ein Serviettenknödel, der auf gebratenem Mangold angerichtet, mit Bechamel- und Tomatensauce garniert wird. Grün, weiß, rot – Graciela kocht manchmal nur nach Farben, entstanden ist ein Hingucker und ich kann es mir nicht verkneifen: Italien meets Bayern. Dafür sind die Arancini di Riso ganz traditionelle sizilianische Küche, die entweder konisch wie ein Kegel oder kugelig geformt sind. Graciela bevorzugt offensichtlich die Bällchenform für ihre vegetarische Linie. Südlich von Neapel sind diese Reiskugeln fixer Inventar jeder Bar.
Wir wechseln nun in die Abteilung Primi. Mit der Cacciucco alla Livornese kehren wir in eine Hafentaverne ein, lassen uns den berühmten toskanischen Fischtopf servieren, ein Ausdruck des Tagesfangs ortsansäßiger Fischer. Der Cacciucco ist weit verbreitet und bekannt in Italiens Häfen und feinen Restaurants. In Ligurien kommen Pinienkerne und Kartoffeln dazu. Ein schöner Brauch in der Toskana ist, zum Abschluss des Fischtopf-Essens aufs Brot ein Scheibchen Schafkäse, getrocknete Feigen, Walnüsse und Rosinen zu legen. Es scheint, dass wir Gracielas Vorliebe für Topfgerichte näher kommen. Wie Ihr wisst, packe ich am liebsten immer alle Zutaten in einen Topf, gab sie in einem Interview preis. Und sie erklärt sich das damit, dass sie familiengeschichtlich im Prinzip auch aus einem Topf mit den verschiedensten Zutaten stammt. Eine Oma stammt aus Galizien, die andere aus den Marken. Der Opa aus Sizilien, der Papa aus Argentinien. Und im Grunde sind ihre Kochavancen international ausgerichtet. Aber hier, in Mamma mia bleibt sie treu auf Kurs der italienischen Küche. Für die Gnocchi in Padella verwendet sie Convenience Food, weicht sie ab von ihrem Anspruch, immer alles selbst zu machen. Die gekauften Gnocchi mögen Zeitersparnis sein, aber selbst gemacht schmecken sie doch besser. Und selbst zu machen sind hier all die vielen Pasta-Gerichte, nur nicht die Nudeln. Die neapolitianischen Paccheri e Gamberi mag jeder. Hier mit dicken Salsiccia Scheiben aufgepeppt zu einem gehaltvollen Essen. Die Rohwurst war für meinen Geschmack fast zu dominant, das nächste Mal werde ich sie kleiner schneiden und weniger davon verwenden. Auch einige Klassiker aus der Nudelküche werden von Graciela vorgestellt. Spaghetti all’ Amatriciana wie auch Spaghetti Cacio e Pepe oder Spaghetti Carbonara, sind Teil italienischer Alltagsküche. Hier kann man nichts falsch machen und egal wie oft man sie auftischt, sie sind jedesmal wieder ein wahrer Genuss.
Nun bei Secondi angelangt, musste ich die Caciu all’ Argintéra gleich ausprobieren. Die Hauptzutat in diesem sizilianischen Essen ist ein Caciovallo, ein milder Kuhkäse, der nach frischer Milch schmeckt. Der Käse, welcher bei uns nicht so leicht erhältlich ist, wird auch aus Schafsmilch hergestellt. Diese Käselaibchen schmeckten vor allem meinen Enkeln besonders.
Ein Gericht, das mir neu war, sind die Rondini Rossi. Dafür werden kleine runde Zucchini mit Polenta und Rote Bete gefüllt. Sie erinnern ein wenig an die gefüllten Paprika oder Tomaten. Die Zucchini in Kombination mit Mais und Rote Bete schmeckten fantastisch.
Eigentlich kocht Graciela immer ohne Rezept. In Mamma mia hielt sie sich an landestypische Vorgaben mit kleinen persönlichen, kulinarischen Eingeständnissen, wie mir scheint. Der Bue Siciliano al Forno, ein Ochsengericht, und das Mamma mia Hähnchen sollten trotz langer Zutatenlisten immer ein Versuch wert sein. Während der Ochs einige Stunden schmoren muss, ist das Huhn ruck, zuck fertig, das behauptet jedenfalls Graciela. Beide Gerichte, wie auch der gerollte Schweinebauch, sind notiert und werden demnächst nachgebaut.
Mamma mia ist ein wunderbar luftig arrangiertes Kochbuch mit großformatigen Bildern. Die Rezepte sind für Kenner der italienischen Küche nicht neu, allerdings steckt in ihnen eine gute Portion Interpretation. Die Lebensfreude der Köchin ist auf allen Seiten sichtbar. Tu si’ nur babbà! (Du bist ein Schatz!) sagen sie in Kampagnien und meinen mit dem Schatz nicht die Liebste, sondern Babà, ein süditalienisches Küchlein, an das, hat man es erspäht, nicht vorbeikommt. Graciela taucht die Babàs, die ein wenig der Venus von Willendorf ähneln, in ein Limoncello-Bad, andere nehmen Rum, um sie besoffen zu machen, und für Kinderfeste empfiehlt sich eine Tunke aus Zucker, Zitrone, Orange und Vanille. Babà wie auch die Torta al Limone Meringata sind, neben anderen, die kleinen Highlights am italienischen Dolci-Himmel. Aber ausklingen lassen wir die kulinarische Reise durch Italien in Apulien mit einem Digestif. Oder doch eher Likör? Gleich vier stehen zur Auswahl und die Entscheidung ist nicht leicht, aber mit Limoncello sicher kein Fehlgriff. Die kräftig, würzigen Aromen aus Zitronen und Zitronenblättern sind feine Gaumenschmeichler. Und warum Apulien, werden sie sich fragen? Dort, nahe Monopoli, hat sich Graciela einen Selbstversorger-Hof gekauft mit Oliven- und Obstbäumen, ein Rückzugsort und Alterssitz. Im Gemüsegarten baut sie Stängelkohl an für ihre Orecchiette con cime di rapa und im Martini dümpelt die Olive aus Eigenanbau.
Fast am Schluss ein Foto mit einem Gartenzwerg, der winkt. Danach ein Register: die Rezepte auf italienisch und deutsch. Graciela Cucchiaras Reise ins Ungewisse ist zu Ende. Entstanden ist ein schönes, sehr persönliches Kochbuch. Die Gerichte daraus nachgekocht, verheißen Momente des Glücks.