Russel Norman, Venedig – Das Kochbuch

Fotos von Jenny Zarins
Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Schlimm und Katharina Lisson
Dorling Kindersley Verlag, München 2018, 320 Seiten, 30.80 Euro
ISBN 978-3-8310-3587-8
Vorgekostet

Heute reisen wir nach VENEDIG

Dazu vermerkte Robert Byron in seinem Tagebuch: „Heute vormittag fuhren wir zum Lido, vom Motorboot aus bot der Dogenpalast einen viel schöneren Anblick als sonst von einer Gondel.“ Wie recht er hat.

Das war 1933. Lord Byron wartete in Venedig auf das Schiff, das ihn und seine Freunde in den Orient bringen sollte. Aber davor besuchten sie noch einmal Harry’s Bar. Die Bar hatte damals schon Weltruf und alle  Venedigbesucher  wollen  sie  sehen, das gehört zum touristischen Pflichtprogramm. Harry höchstpersönlich, in grünem Hemd und weißer Kasinojacke, spendierte damals einen Cocktail aus Champagner und Kirschlikör. Dabei vertraute er seinen englischen Gästen an, dass dieser Cocktail nur wirkt, „wenn man den schlechtesten Kirschlikör nimmt“. 80 Jahre später ist es Russel Norman, der Venedig einen längeren Besuch abstattet. Normans Venedigbegeisterung begann 1986, sein erster Besuch der Serenissima. 30 Jahre später wird die Via Garibaldi der Ausgangspunkt für seine Stadterkundungen, die Tagebucheintragungen und Rezeptnotizen Grundlage für das Kochbuch. Für 14 Monate hat er sich einquartiert im Wohnviertel an den Giardini. Gelegentlich besucht er mit Freunden Harry’s Bar, weil sie von ihr gehört haben und neugierig sind. Und während die meisten einen Bellini bestellen, begnügt sich Russel mit einem einfachen Gibson. 70 ml sehr guter Gin, eiskalt, von fast sirupartiger Konsistenz, in ein gefrorenes Glas gießen und dazu einen halben Teelöffel trockenen Wermut geben. Dann noch zwei Silberzwiebel auf einen Cocktailspieß stecken und in das Glas stellen. Fertig ist der Gibson, wie man ihn annähernd in Harry’s Bar bekommt. Allerdings stammt dieses Rezept von Russel Norman und das ist in Venedig – Das Kochbuch abgedruckt, das im Dorling Kindersley Verlag nun auf deutsch erschienen ist.

Vereinnahmend edel ist die äußere Aufmachung: Das Titelblatt leicht pfirsichfarben, der Schriftzug in Gold gefasst, dazu ein Bild von der Lagunenstadt, wie es Caneletto nicht besser hingekriegt hätte. Die Seiten des Buchblocks golden. Mit dem Löwen, das Wahrzeichen Venedigs, und Henry James Grundsatz: „Venedig genießt man, indem man dem Beispiel der Menschen hier folgt und aus dem Einfachen das Beste macht“, öffnet sich für uns quasi das Stadttor, erkunden wir mit Russel über ein ganzes Jahr die kulinarische Seite dieser Stadt. Dabei ist der Anspruch des Autors nicht unbedingt, die gehobene, perfekte Restaurantküche zu zeigen. Nein, es geht ihm vor allem um die Privatküchen Venedigs. Wer heute um die Mittagszeit mit einem Wassertaxi durch die engen Kanäle Venedigs fährt, kann die Essensdüfte riechen. Da schwängert frisch gekochte Pasta die Luft, dann Fisch und Meeresfrüchte, dann riecht es nach Huhn und alle paar Meter kommt eine neue Duftnote hinzu. Wahrscheinlich sind die Gerüche wegen der fehlenden Autos so deutlich wahrzunehmen.

An einem Oktobertag beginnt Russel Norman sein Venedig-Abenteuer. Seinen Nachbarn und vor allem Nachbarinnen folgt er nun auf Schritt und Tritt. Nein, er ist kein Perverser. Er ist ein erfolgreicher Koch und Kochbuchautor und er „verfolgt“ die Venezianer aus reiner Freude am Genuss guten Essens. Russel lernt von ihnen. Wo es fangfrischen Fisch gibt, wie die Gemüsehändler ticken, was einfache, venezianische Kost ausmacht. Er freundet sich mit ihnen an, die ebenso wie er gutes Essen lieben. Er folgt ihnen in ihre Privatküchen, wo nach Rezepten gekocht wird, die lediglich im Kopf des Menschen am Herd existieren und mündlich von Generation zu Generation weitergegeben werden. Dieser Kochkultur nähert er sich äußerst erfolgreich an, das sei vorweggenommen. Leitmotivisch dienen die vier Jahreszeiten und so ist auch das Kochbuch aufgebaut.

Es beginnt mit Frühling. Im Kapitelauftakt sind zunächst alle Frühlings-Rezepte, die noch folgen, aufgelistet und unterlegt mit einem nicht so und doch typischen Venedigfoto: eine Wasserstraße mit Anlegekais, flankiert von Häuserzeilen im Blau der Morgenstunde. Dem folgen einleitend Russels Vorstellungen seiner Suche nach einfachen Dingen. Und die beginnen mit dem Gedanken an Essen und die magische Anziehung der Märkte. Er erzählt von Begegnungen mit Einheimischen und Produzenten, lässt ein Venedigbild entstehen, das der teilnehmenden Beobachtung entspringt. Lebendig und nahe am Puls des Alltags. Er nimmt uns mit zu den Bauern, zu den Fischern und zum Metzger. Wir lernen viele neue Kulinarien kennen: Telline, winzig kleine Muscheln oder Moèche, jene frisch gehäuteten Krebstierchen, die frittiert werden und wie Pommes in Tütchen abgepackt in mancher Bar angeboten. Dort gibt es auch in großer Auswahl kleiner Snacks, die in Venedig cichèto genannt werden. Brokkoli-Crostini mit Sardellen ist so ein wunderbarer Frühlingssnack. Der Brokkoli darf nicht zu lange gegart werden, sonst wird er weich und breiig. Kaum ist das krosse Brötchen mit dem Sardellenfilet belegt, kann man es kaum erwarten hinein zu beißen. Neu für mich waren die frittierten Sardinen. Sie schmecken hervorragend zum Aperitif. Einfach, schnell gemacht und gesund sind die frittierten Salbeiblätter. Die Blätter findet man auf den Märkten Venedigs, wie auch die kleine violette Artischocken, die castraure heißen, also ‚kastriert‘ werden, damit sie noch ein zweites Mal Knospen treiben. In einem kurzen Zeitfenster, zwischen Ende April und Anfang Mai, werden die jungen Artischocken auf der Laguneninsel Sant Erasmo geerntet, auf den Märkten von den Händlern geputzt und warten auf ihre Käufer. In Eimern mit kaltem Wasser liegen dann die Artischockenböden harrend ihrer Bestimmung für Risotti, Pasteten und anderer Gerichte. Z. Bsp. für einen Artischockensalat oder einen Artischockenrisotto, den ich natürlich ausprobieren musste. Allerdings nicht mit castraure, denn diese kleine violette Art gibt es fast nirgends außerhalb Venedigs. Und so suchte ich bei meinem Gemüsehändler die kleinsten Exemplare aus, die ich finden konnte, sie kamen aus Ligurien. Dass der Wissenstransfer auch in die andere Richtung funktioniert, beweist der Autor mit seiner Bärlauchsuppe. Wobei ich vermute, dass auf Venedigs Gemüseinseln kein Bärlauch wächst, er vom Festland importiert wird. Jedenfalls ist Russels Süppchen ein wunderbarer kräutiger Frühlingsbote mit mildem Knoblaucharoma und von intensiv grüner Farbe. Russel gibt der Bärlauchsuppe eine mehligkochende Kartoffel bei, um sie sämiger zu machen. Andernorts wird Mascarpone eingerührt. Seinen venezianischen Freunden schmeckte die Suppe hervorragend und das war wohl einer der seltenen Fälle, in denen ein Gericht von anderswo Gnade vor italienischen Augen findet. Aber die venezianische Küche nimmt gerne Anleihen aus anderen italienischen Regionen. Deshalb passiert es immer wieder, dass die Venezianer behaupten, dass das, was serviert wurde, eine Kopie eines alten venezianischen Rezepts sei. Mit Risi e Bisi auf venezianische Art dürfte es sogar stimmen. Diese vielfach kopierte Suppe aus Reis und Erbsen isst man traditionell am Markustag, wenn die Venezianer ihren Frauen eine rote Rose schenken. Junge Erbsen paaren sich mit Vialonereis und – ergänzt mit ausgelassenen Pancettawürfeln in Hühnerbrühe – verschmelzen sie zu einer herzhaft-würzigen dicken Suppe. Dass auch Spaghetti einen frühlingshaften Charme entwickeln können, beweist ein Gericht mit einem altvertrauten Gemüse. Für Spaghetti mit Zwiebeln hat man vermutlich alles vorrätig und ist deshalb das Pastagericht, das Russels venezianische Nachbarn am häufigsten kochen. Also:6 Zwiebeln in 5mm dicke Ringe schneiden, anschwitzen mit 200 ml Hühnerbrühe angießen und 10 min köcheln lassen. Inzwischen 400 g Spaghetti kochen, abgießen und zu den Zwiebeln geben. Mischen und dann noch Butter, Pfeffer, Petersilie und 75 g Parmesan zufügen, noch einmal umrühren und nun servieren. Sollten Sie das ausprobieren – und dazu rate ich -, dann werden Sie feststellen, dass das Lauchgemüse fast exotisch wirkt; wie ein alter Freund in neuer Kleidung. Es werden noch weitere Nudelgerichte vorgestellt, die, ob mit dem nussigen Fleisch der Taschenkrebse oder mit Bottarga und Erbsencreme oder mit Wurst und Ei, zuzubereiten Spaß macht und ganz neue Geschmackserlebnisse eröffnen. Auch die Gnocchi mit Calamaretti und Zimt mögen überraschen, aber in der venezianischen Küche kommt Zimt recht häufig vor. Allerdings, Calamaretti, das sind winzige Tintenfischchen, aufzutreiben gelingt eher selten. Ebenfalls dem Frühling zugeordnet sind zwei Pizzen, die einem ein richtig gutes Gefühl geben. Mein Favorit ist die Pizza mit roten Zwiebeln, die der ‚einzig wahren‘ Margherita ebenbürtig ist. Wunderbar das leicht süßliche Aroma der roten Zwiebeln, die in viel Mozzarella eingeschlossen sind.

Langsam haben wir uns durch das Frühlingskapitel gekocht. Einiges stünde noch an, wie der Petersfisch mit Spargel oder die Makrelen-Caponata oder Toblerone-Zabaione, ein ungewöhnliches Dessert mit einem Schuss Alkohol. Ebenso außergewöhnlich wie die Frittata mit Garnelen und Dill, die ich meiner Frau vor Kurzem servierte. Eigentlich ein Gericht für die heiße Jahreszeit, wird die Frittata meist kalt gegessen als leichtes Mittagsmenü oder Snack für den kleinen Hunger. Wir mögen sie warm serviert und so wird sie wohl noch öfter auf unserem Küchenzettel stehen. Allen, die sie genossen haben, hat sie wunderbar gemundet und alle wollten immer das Rezept erfahren, ebenso das von den gedünsteten Erbsen mit Basilikum.

Wenn im Spätfrühling zum ersten Picknick geladen wird, dann sind die Zaleti ein Teil des Buffets. Das Wort leitet sich von ‚zalo‘, gelb, her und diese kleinen Weckerln können mit Pinienkernen oder Rosinen zubereitet werden. Ich mag die Rosinenversion und schließe damit das Frühlingskapitel.

Das Verfahren wiederholt sich in den anderen Kapiteln Sommer, Herbst und Winter, nur die Rezepte sind andere. Jedem Rezept vorangestellt ist ein Vorspann, quasi die humane Note des Essens, denn mit ihm wird das Leben in der Seremissima beschrieben, werden Menschen hinter den Rezepten sichtbar.

„Der Weg zum Glück. Nie weiter vorausdenken als bis zum Essen.“ ist der Slogan des Gourmetkritikers Stephen Bayley. Und ich werde den gut gemeinten Ratschlag ergänzen und festhalten, dass man in Russel Normans Venedig Kochbuch viele Glückstreffer guten Essens finden kann. Also: Venedig – Das Kochbuch entführt uns in eine Stadt, die wir zu kennen glauben, und wir müssen feststellen, es gibt noch so viele unbekannte kulinarische Seiten dieser Stadt. Sehr eindrücklich sind auch die Fotografien. In zauberhaften Pastelltönen und mit Spürsinn für wunderbare Details lässt uns die Fotografin Jenny Zarins die Stadt und ihre Bewohner hautnah erleben. Sie entführt uns an viele Kochstellen venezianischer Köchinnen und Köche, die frische, lokale Produkte bevorzugen. Manche Aufnahmen sind direkt vor Ort gemacht ohne nachbearbeitete Beschönigung. Das verleiht dem Werk Authentizität, wie auch der Autor mit seinem Schreiben die venezianische Alltagsküche uns nahe bringt und begeistert. Man sollte eigentlich zwei Stück von diesem Kochbuch haben: eines zum Anschauen und Lesen sowie eines zum Kochen.

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