Norman Russel, BRUTTO

Die echte Küche aus Florenz

Einfach. Authentisch. Gut
Texte und Rezepte von Russel Norman
Fotografie Jenny Zarins
Aus dem Englischen übersetzt von Katrin Korch
Christian Verlag, München, 2023, 320 Seiten, 49.99 Euro

ISBN 978-3-95961-851-9
Vorgekostet

Heute reisen wir nach FLORENZ.

In eine Stadt, die zusammen mit Venedig die Sehnsucht der Italien-Suchenden am meisten befriedigt. Goethe hielt sich nicht sehr lange in der Hauptstadt der Toskana auf. Vom Appennin herunter kommend, sieht er Florenz liegen in einem weiten Tal, das unglaublich bebaut und ins Unendliche mit Villen und Häusern besät ist. ( …) Um Florenz an den Bergen ist alles mit Ölbäumen und Weinstöcken bepflanzt.* Die heute einwohnermäßig achtgrößte Stadt Italiens zieht jedes Jahr zehnmal soviel Touristen an. Aber nicht nur des Weines und der Oliven, vor allem ihrer Geschichte, ihrer Architektur und ihrer Kunst wegen.

Als die Medici über die Region herrschten, verpflichteten sie die Grundbesitzer, in ihrem Olivenhain jedes Jahr neue Bäume zu pflanzen. 400 Jahre später genießen wir die Früchte jener Weitsicht der Medici: Öl von den Olivensorten Frantoio, Leccino und Pendolino. Ein berühmtes toskanisches Gericht ist prinzimonio, das bestes Oliven-Öl und Gemüse kombiniert. Dazu zählt Rohes Gemüse mit jungem Olivenöl & Zitrone genauso wie der Florentinische Tomatensalat, den Russel Norman in der Trattoria Sostanza in Florenz entdeckte. Das waren aber nicht die einzigen Gerichte, die er auf seinen kulinarischen Streifzügen notierte, um sie später in seiner Trattoria BRUTTO in London auf die Speisekarte zu setzen. Der Tomatensalat besteht aus zwei dicken Scheiben reifer Costoluto-Tomaten mit Oliven-Öl und Salz, sonst nichts. Costoluto-Tomaten, sie werden auch florentinische Tomaten genannt, sind flach, gerillt und müssen reif sein. Aber für diesen einfachen insalata können auch andere, nämlich Ochsenherztomaten verwendet werden. Wer mir nicht glaubt, kann es nachlesen in BRUTTO, dem vierten Kochbuch des englischen Starkochs Russel Norman. Es geht um nicht weniger als Die echte Küche aus Florenz. BRUTTO, das Buch, huldigt einem Kochstiel, der Einfach. Authentisch. Gut. ist. Darin finden sich einige Klassiker und Neuentdeckungen florentinischen Essens, die sowohl in London als auch Florenz auf der Karte stehen, die auch bei Ihnen zuhause serviert werden können. 

Russel Norman verteilt seine kulinarischen Florenz-Erkundungen auf neun Kapitel. 

Mit ANTIPASTI & SPONTINI eröffnet er den Reigen, klärt auf, dass es sich nicht um Pastagerichte handelt, sondern um Appetit-Anreger, die zum italienischen Essen wie das Vorspiel zur Liebe gehören. In Italien sagt man nicht umsonst: L’appetito vien mangiando – der Appetit kommt beim Essen. Das kann ein Sauerteigbrot mit Butter oder Sardellen sein, genauso wie Crostini mit Cannelini-Bohnen und Oregano oder das bereits erwähnte Rohe Gemüse mit jungem Olivenöl & Zitrone. Wichtig bei diesem Prinzimino-Gericht ist, junges Oliven-Öl aus der ersten Pressung, das sehr teuer, aber auch sehr delikat ist, zu verwenden. Eine Entdeckung sind die Coccoli, kleine Knuddel-Bällchen mit Stacchino & Schinken. Die frittierten Bällchen werden mit der Hand aufgebrochen, um sie mit dem Weichkäse und Schinken zu befüllen, dann leicht zusammenzudrücken und zu essen. Ein sehr sinnlicher Akt! Weitere Köstlichkeiten sind ‚Omas Taschentücher’ – Florentinische Spinat-Pfannkuchen, die in größerer Stückzahl auch als kleine Mahlzeit durchgehen. Dieser Pfannkuchen oder italienisch crespelle ist mit einer Fotostrecke unterlegt. Und weitere Rezepte, wie das Bistecca, die Hühnerbrühe, der Brotteig usw., garantieren mit schönen Bilderfolgen den gelingsicheren Nachbau. 

Ein Hammer ist Birne mit Peccorino & gerösteten Walnüssen. Vorgegeben ist hier die Decana, eine bauchige süße Birnensorte aus der Emilia mit gelb-grüner Schale, die, im Spätherbst geerntet, bis in die Iden des Märzes lagerfähig ist. Die Decana neigt zu körnigem Fruchtfleisch, das muss man mögen. Die Abate-Birnen, die ich verwendete, kommen nicht an das Aroma der Decana heran, für meine Gäste aber war das zweitrangig, weil Birne und Käse ihr kulinarisches Traumpaar sind. Und die herzhaften Pizzen führen uns in die Bäckereien und Bars von Florenz, wo sie als kleine Imbisse angeboten werden. Die Grundlage bildet ein universaler, einfacher Pastateig, ein Eiernudelteig, der auch zum Herstellen kleiner Gnocchi taugt.

Das PRIMI-Kapitel steht zu Recht an zweiter Stelle, wenn auch der primo-Gang für Nicht-Italiener eher verwirrend ist, weil er noch eine Vorspeise suggeriert, zudem alle sehr kohlehydratlastig sind. Der Trick der Italiener besteht darin, schreibt Norman, Reis, Suppen und Pasta in kleinen Portionen aufzutischen. Darüberhinaus gibt es zu Secondi selten Gemüse oder Kartoffeln. Na gut, über Taglietelle mit Hackfleischsauce wird endlos diskuttiert, ob das Ragù mit Rind oder Schwein gemacht wird, mit oder ohne Knoblauch? mit oder ohne Kräuter? mit oder ohne Milch? Vergessen Sie die Debatte, es gibt keine richtige Antwort. Normans Taglietelle al ragù ist eine der besten ragù, die ich gegessen habe, und damit pasta. Die Suppe mit Borlotti-Bohnen, Pasta & Rosmarin ist ein Gericht, das nicht unbedingt hübsch aussieht, aber lassen Sie sich nicht täuschen, die Aromen sind umwerfend. Der Vorteil dieser Suppe liegt auf dem Teller, d. h., die Zutaten sind preiswert und fast in jedem Haushalt vorrätig, der italienisch kocht. Ein leicht kitschiges Rezept, das – so Russel – in den 1980er Jahren sehr beliebt war, ist Penne mit Wodka-Tomatensauce. Vielleicht ist die Wodka-Zugabe eine Spielerei, aber er passt gut dazu und es schmeckt. Sollten Sie Penne lisce, die kleineren ohne Rillen, bekommen, dann wird das Gericht noch authentischer. Die Zuppa di cipolle oder Carabaccia, so nennen Florentiner ihre Zwiebelsuppe, sei ursprünglicher als die französische, behaupten die Einheimischen. Ein Rezept aus der Renaissance sollte das belegen. Der Hofkoch der Medici, Cristoforo da Messibugo beschreibt, wie Zwiebelringe in Gemüsebrühe zu garen und mit gemahlenen Mandeln, Essig, Zucker und Zimt zu würzen seien. Als Caterina de’ Medici Heinrich von Orleans heiratete und nach Paris übersiedelte, brachten ihre Köche die Carabaccia mit, die so Inspiration für die französische Zwiebelsuppe gewesen sein könnte. 

Ein Gericht mit dem charmanten Namen Gnudi, was soviel wie Nackte bedeutet, die die einfachste Form hausgemachter Pasta ist, wird mit einer feinen Sauce aus Salbei und frisch zerlassener Butter serviert. Damit diese Spinat-Ricotta-Knödel auch schön locker und luftig gelingen, darf man kein Mehl in die Spinatmasse geben, sie werden lediglich in etwas Mehl gewälzt, damit sie ihre Form behalten. Gnudi herzustellen macht auch Kindern Spaß. Mit Florentinische Eier stoßen wir noch einmal auf Caterina di’ Medici. Sie liebte Spinat über alles, weshalb man später jedem Gericht am Hofe, das mit Spinat zubereitet wurde, ihr zu Ehren den Beinamen ‚florentinisch‘ gab. Gewaltig erheben sich die pochierten Eier auf dem Toast, geben ihm ein gehaltvolles Ansehen.

Im INSALATA-Kapitel versammeln sich einfachste Gerichte, die folgender Philosophie zugeordnet scheinen: Die Natur hat schon ausreichend harte Arbeit geleistet. Weshalb sollte man also etwas, das nahezu perfekt ist, unnötig verkomplizieren? Die Salate bestehen für gewöhnlich aus einer einzigen frischen Zutat, wie Blattsalat oder Radicchio oder Tomaten. Das schönste und schmackhafteste Beispiel, wie schon erwähnt, ist der Florentinische Tomatensalat. Aber es gibt auch den Weiße-Bohnen-Salat mit Thunfisch & Schalotten, den Gurkensalat mit Minze & Sellerie, den römischen Getreidesalat, den Kartoffel-Erbsen-Salat mit Frühlingszwiebeln, um einige aufzuzählen. Ein Eldorado für Salat-Liebhaber. 

Florenz ist eine fleischlastige Stadt, behaupte Russel und tritt den Beweis in Kapitel vier an. In SECONDI gibt es nur drei Fischgerichte und noch weniger vegetarische. Dafür den berühmten florentinischen Rinderschmortopf Peposo, der mit zwei Esslöffeln Pfefferkörner ein feuriges Verhalten an den Tag legt. Wer lieber gemahlenen Pfeffer verwendet, nehme nur einen Esslöffel davon. Den pfeffrigen Geschmack verliert der Pepose nicht, auch nachdem ihm eine ganze Flasche Chianti zugesetzt wird. Ratsam ist auch, viel knuspriges Weißbrot zum Auftunken der Sauce bereitzuhalten, die schmeckt himmlisch. Auf das Bistecca alla florentina gehen wir nicht mehr ein, hier genügt der Hinweis, dass natürlich auch ein Rezept dafür in diesem Kochbuch zu finden ist. Neugierig wird man auf das Hähnchen mit Trauben, Oliven & Salbei wie auch auf den Florentinischen Hackbraten, der keinen Schönheitswettbewerb gewinnt, aber sagenhaft gut schmeckt. 

Das Kapitel CONTORNI kann als Ergänzung betrachtet werden. Hier geht es um Beilagen, vor allem anbetracht der Tatsache, dass manche den Pasta-Gang weglassen und mit einer Beilage den Secondi-Gang aufwerten. Spinat aus dem Ofen fiel dabei sofort auf. Ein Gericht, das sich fast schon als Hauptspeise, eine Art Quiche, behaupten kann. Ins Schwärmen komme ich immer bei italienischen Linsen-Gerichten, die hier ergänzt mit dicken Schweinswürsten zu einer kleinen Mahlzeit abheben. Eine tolle Beilage.

Im sechsten Kapitel dreht sich alles um BRODI, SALSA, PASTE & DISPENSA. Also alles, was sich bevorraten lässt und Zeit spart. Ob Rinderknochen-  oder Hühnerbrühe, von der grünen Sauce bis zum Estragon-Dressing, dem einfachen Brot- wie auch Pastateig ist hier versammelt, was Kühlschrank und Vorratsregale füllt. 

In den toskanischen DOLCI wozu auch die fiorentinischen zählen, steckt wiederum der Geist der Einfachheit. Normans Apfelkuchen überrascht, weil er keinen Boden hat, und die Haselnuss-Baisers  überraschten mich, weil mein Rezept mit ganzen Haselnüssen viel aufwändiger ist als das hier vorgeschlagene mit gemahlenen Haselnusskernen. Und die Ricciarelli demonstrieren die Verwandlungsfähigkeit der Mandeln, präsentieren sich als prachtvolle weiche Kekse, die in der Vorweihnachtszeit kleinen Schneelandschaften ähneln. Die letzten beiden Kapitel sind nicht ganz jugendfrei. In BEVANDE werden eine Reihe von Mixturen vorgestellt, in welchen Amaretto, Whisky und Co. die Hauptrolle spielen. Und zum Auskundschaften der fiorentinischen Küche ist wohl mehr als etwas Taschengeld nötig. Die entsprechenden Adressen finden sich in LOKALE von A-Z.

BRUTTO von Russel Norman ist ein Hohelied auf die florentinische Küche mit Ausflügen ins benachbarte Umland. Es enthält fabelhafte Rezepte, von denen einige bekannt sind, manche abgewandelt und viele überraschend. Sie alle spiegeln den Reiz der rustikalen Küche der Toskana. Hier findet man genügend Rezepte, die einfach und mit wenig Zutaten auskommen, die zusammen außergewöhnlich Schmackhaftes ergeben. Hier sind die Worte des britischen Kochs Shaun Hill angebracht: Kaufen Sie die besten Zutaten und ruinieren Sie sie nicht!  Das sehr schön gestaltete Kochbuch mit offenem Rücken macht eine hochwertige Fadenheftung sichtbar, was die Handhabung des Buches erleichtert, da man es aufgeschlagen hinlegen kann, ohne dass es zuklappt. Allen Rezepten vorangestellt ist ein informativer Vorspann. Ausdruck für Russels Liebe zu den kulinarischen Köstlichkeiten der Stadt wie auch zu deren Bewohnern. Hier steckt viel Herzblut drin. Umso trauriger ist die Tatsache, dass BRUTTO im gewissen Sinne auch ein Vermächtnis von Russel Norman darstellt; er ist knapp nach dem Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe 57-jährig gestorben. 

Brutto ma buono – hässlich, aber gut, war ein Bekenntnis Russels. Und Vorsicht, dieses Kochbuch ist ein Verführer, dem man schwer widerstehen kann. Selbst die Kuttel-Brötchen präsentieren sich nicht ekelig und schmecken ausgezeichnet, nur Mut.

* Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise. Zweiter Aufenthalt vom Juni 1787 bis 1788