Heute durchstreifen wir WIEN.
Auf der Suche nach einer Metzgerei, die auch Fleischkäse vom Pferd im Sortiment führt wie auch Salami vom Esel. Immer wenn ich in Wien bin, statte ich einem von zwei dieser mir bekannten kleinen Läden für Wurst und Fleisch einen Besuch ab und gönne mir eine Pferdefleischkässemmel. Es sind Spezialisten der Fleischverwertung, die ihre Produkte nach alten Rezepten herstellen. Ihre Geschäfte sind kleine Oasen, versteckt in engen Gassen, vorne der Verkaufsraum, dahinter die Kühlkammer und Selcherei. Sie kommen mir vor wie Relikte vergangener Zeiten. In keiner mir bekannten Großstadt ist die Dichte an Metzgereien so groß wie in der Bundeshauptstadt Österreichs. Und natürlich gibt es auch große Player unter den Metzgern. Etwa den Radatz. Um ihn geht es heute, genauer, um Das Wiener Fleisch- & Wurst-Kochbuch, Der große Radatz, das im Christian Seiler Verlag erschienen ist.
Vor nun über 60 Jahren gründete der Fleischermeister Franz Radatz sein erstes Geschäft. Seither ist eine Menge geschehen – aus der kleinen Fleischerei in der Karolinengasse ist ein prosperierender Konzern entstanden mit sehr vielen Geschäftsstellen und 850 Mitarbeiter:innen. Franz’ Idee, die zahllosen Greißler der Stadt mit Würsten und Fleischwaren zu beliefern war ein Lottosechser. Sohn Franz scheint ebenfalls diese visionären Qualitäten zu besitzen, jedenfalls die ‚drei Deka Hirn‘, die es dafür braucht, wie Senior Franz zu sagen pflegte.
Der große Radatz ist in sechs Kapitel unterteilt. Das erste Drittel ist der Geschichte, der Produktion und den Produkten Fleisch wie auch Wurst gewidmet. Wie aus einem kleinen Geschäft ein großes Unternehmen wurde, hängt, wie schon erwähnt, mit dem Hirn zusammen, aber auch einer Frau. Elisabeth, die starke Frau hinter dem erfolgreichen Firmengründer, führte bspw. in den 80er Jahren in den Filialen ein gastronomisches Mittagsangebot ein, das heute täglich von rund 7.000 Gästen verlangt wird. Die Firmengeschichte legt Erstaunliches offen, auch, was man nicht erwartet hätte. ‚Die Wurst ist ein Lebewesen’ war einer der Grundsätze von Franz Radatz. Und damit kommen wir auch schon zu den Kernfragen: Wie kommt das Fleisch in die Wurst? Welche Wurst in welche Haut? Der Abschnitt über die Produktion erlaubt uns einen Blick hinter die Kulissen des Wurstmachens. Entgegen der Vorstellung, dass wir eine gewisse Wurschtigkeit gegenüber den tierischen Produkten pflegen, erfährt man in einem Rundgang durch alle Betriebsstationen, wie die Wurst entsteht. Von der Fleischbeschaffung bis zur preisgekrönten „Camembert Salami“. Die Stationen, die die Rohware durchläuft, bis zum fertigen Produkt beschreibt der Autor Christian Seiler detailreich mit viel Empathie für die Personen, die in den einzelnen Arbeitsprozessen stehen, vom Anliefern, Prüfen, Zerlegen, Kuttern, Füllen, Sieden bis zum Räuchern und Verpacken. Verstärkt wird diese Innensicht mit hervorragenden Fotos, die sowohl die Arbeitsprozesse als auch die Gesichter hinter der Wurst sichtbar machen. Und man glaubt dem Markus Brandl, der die Kutterei leitet, wenn er behauptet: „Ein Biss von einer Frankfurter, und ich weiß, dass die von uns ist.“ Ja, Würste haben ihren unverkennbaren Charakter, erzeugen jenes einzigartige Geräusch, das ‚Saft und Kraft‘ verheißt. Am Anfang und am Ende steht die Qualität des Rohstoffs Fleisch und das, was daraus gemacht wird, ob Braten oder Wurst oder Würstel. Die der Produktion folgenden Kapitel sind eine kleine Warenkunde über Fleisch und Wurst. Geht es im Abschnitt Fleisch um die wichtigsten Teile und Zuschnitte der Wiener Fleischhauer-Tradition, also jene Stücke, die in der Wiener Fleischküche verarbeitet werden, so wird in der Abteilung Wurst aufgeklärt, was diese runde und knufflige Verlockung uns genau verspricht. Mit Bild und Beschreibung werden zunächst die wichtigsten Teile von Rind, Schwein und Kalb vorgestellt. Warum Schaf, Ziege und Huhn fehlen, wird nicht erwähnt. Bei der Wurst heißt es dann: Sie hat zwei Enden, aber vor allem einen Anfang. Den macht der Wurstmeister, er bestimmt, was hineinkommt. Und wir können nachlesen, was drinnen ist, in der Bauernblutwurst, dem Beinschinken, der Burenwurst bzw. Klobasse dem Frankfurter Würstel das in Frankfurt Wiener Würstchen heißt, der Haussalami, der Knacker usw.. Jedes Würstchen glänzt mit einem Portraitfoto, gibt seine Zutaten preis wie auch den Darm, ob Schaf- oder Rinderkranzdarm, der sie ummantelt. Dazu vereinzelt Tipps. So kann die Kranzlextra in Scheiben geschnitten und in einem Backteig zu Wurstkrapferln herausgebacken werden. Oder, dass man das Würstelwasser salzen muss, mit einem Teelöffel pro Liter Wasser, da sonst die Würstel Salz in das Kochwasser abgeben und an Geschmack verlieren.
Damit kommen wir schon zum eigentlichen Hauptteil, den Rezepten. Vor allem wird die Wiener Fleisch- und Wurstküche hier bedient. Von der Rindsuppe bis zum Speck-Krautfleckerl, alles ist versammelt, was die traditionelle Wiener Küche zu bieten hat. Auch Neues und manche Wiederentdeckung wie das Bruckfleisch, der Stephaniebraten, der Grenadiermarsch, die Blunzenbuchteln und der Topfenhaluschka, ein Gericht, das die Tschechen nach Wien gebracht haben. Für die Rezepte ist Gabriele Halper verantwortlich, eine Wiener Köchin und Food-Stylistin. Warum sie nicht vorgestellt wird, bleibt ein Mysterium, wie auch die Wurst selbst ein Rätsel ist. Den Hauptanteil an Rezepten ist dem Rind verpflichtet, wohl auch, weil das gekochte Rindfleisch die Seele der Wiener Küche ist, wie der Journalist Joseph Wechsberg es einmal formulierte. Während das Filet Wellington in London und in Wien gleich zubereitet wird, die Rezeptur kaum voneinander abweicht, gibt es zwischen dem österreichischen und dem schwedischen Krautwickler einen markanten Unterschied. In schwedischen Familien gibt es eine Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, die Krautrouladen, bevor sie ins Rohr geschoben werden, mit Sirup zu übergießen. Und wenn in Vietnam die Rindsrouladen mit Gemüse und einer Soße aus fermentiertem Soja serviert werden, dann genügen den Wienern die Bratensoße und Erdäpfelpüree oder Bandnudeln als Beilage.
Gabriele Halper präsentiert auch weniger Bekanntes aus der Schinken- und Wurstküche. Naja, Schweizer Wurstsalat kennt man, saure Wurst auch. Aber gebratene Augsburger mit Kräuter-Kohlrabi oder den Grammelstrudel oder Unter der Haut gefülltes Brathuhn nicht unbedingt. Und auch die Innereienküche kommt nicht zu kurz, allerdings vermisse ich die Schweinsleber – na gut, man kann nicht alles haben. Eh wurscht, denken sich die meisten, immerhin sind es über 100 Rezepte, die Gabriele hier verwurstet, äh vorstellt.
Der große Radatz ist Kochbuch und Ratgeber, was Fleisch und Wurst betrifft. Am Ende wird im Kapitel Fleisch- und Wurst-ABC alles Wichtige diverser Zubereitungsarten kurz und bündig zusammengefasst. Das einzige, was mir fehlt: Wie geht man mit Fleisch- und Wurstwaren um, die lange abgelaufen oder verdorbenen sind. Erstaunlich das Sachregister, das auf zwei Seiten die vorangegangenen 360 Seiten mit vielen Stichworten und noch mehr Seitenhinweisen vollständig erfasst. Der große Radatz wird vor allem Wurst- und Fleischliebhaber:innen gefallen. Er ist aber auch Zeitgeschichte und Dokument über ein Wiener Fleischer-Imperium. Christian Seiler streicht das handwerkliche Geschick, die langjährige Erfahrung und das Wissen, das in der Produktion von Würsten und Würsteln steckt, heraus. Was im Rezeptkapitel dann veredelt wird, ist die fleischige Seite der österreichischen Hausmannskost, vom Backhendl bis zum Majoranfleisch und Bauern-Presswurst.