Stéphane Reynaud, Bistro, Bistro!

100 % französische Küche

250 Rezepte, 100 Weine
Fotografie von Marie-Pierre Morel
Übersetzung Wiebke Krabbe, Heinrich Degen
Dorling Kindersley, München, 2022, 480 Seiten, 42.30 Euro

ISBN 978-3-8310-4584-6
Vorgekostet

Heute reisen wir nach FRANKREICH.

Wir werden ausgehen – in ein Bistro! Im Eingangsbereich empfängt uns ein freundlicher Bistrotiér: Bonjour! Zwei Personen? Haben Sie reserviert? Nein? Dann trinken Sie doch am Tresen einen Rotwein, bis ein Tisch frei wird … Ein Stück Wurst dazu? Selbstverständlich!

Das Bistro ist eine französische Institution. Bei Wikipaedia lese ich nach, dass Bistro sich vom russischen Wort bystro für schnell herleitet. Bystro, bystro riefen die russischen Soldaten in den Gaststätten im von ihnen besetzten Paris zwischen 1814 und 1818 und forderten so eine rasche Bedienung ein. Aber vielleicht stimmt das gar nicht und Bistro leitet sich einfach von bist(r)ouille ab, was ein Mixgetränk aus Kaffee und Weinbrand ist. Jedenfalls heißt uns Stéphane Reynaud Willkommen, in seinem Bistro, seiner Welt, in der man sich etwas Gutes tut, indem man sich eine Auszeit abseits des hektischen Alltags gönnt. Das Bistro, schreibt er in der Einleitung seines Kochbuchs,  ist ein Ort, der einem Zuhause gleicht, das einen gleich beim Eintreten umarmt. Hier erlebt man Momente, in denen man zwischen zwei herzhaften Bissen oder zwei Schlückchen aufatmen kann.

Nun, ich sitze nicht im Général, Stéphanes Bistro in Paris, sondern zuhause und blättere in seinem neuesten Werk Bistro, Bistro! Ein fast 500 Seiten starker Wälzer, der, so vermute ich, das ganze Repertoire der französischen Bistroküche abdecken soll. Eine Küche, die natürlich regional geprägt ist mit internationalen Einflüssen.

Als Erstes fällt die grafische Gestaltung auf, die mich an die Speisekarten dieser gemütlichen Lokale erinnern. Einfache Speisen bekam ich dort serviert, genussvolle mit guter Weinbegleitung. Das scheint auch der rote Faden in Bistro, Bistro! zu sein. In neun Kapiteln wird à la carte aufgetischt. Beginnend am Tresen, wie schon erwähnt, wird das Warten auf einen frei werdenden Tisch, ob in der Früh, zu Mittag oder am Abend, mit einer kleinen Aufwartung, einem Getränk verkürzt. Ich genehmige mir einen Aperitif, einen Guignolet Daiquiri. Das Getränk aus Rum mit Guignolet, einem Kirschlikör, sowie Zuckerrohrsirup und Zitronensaft lässt mich das Warten vergessen. Früher wurden Spirituosen der Cocktails wie bspw. Absinth oder Lillet auf großen Reklametafeln in den Bistros angepriesen. Dann geriet das in Vergessenheit. Jedenfalls finden sich in Stéphanes Bistro-Buch einige dieser Aperitifs und potenziellen Snacks zum Anwärmen. Dazu zählen Croissants zum Aufwachen wie auch die Konfitüren dazu: Aprikose mit Rosinen & Sternanis oder Bitterorange mit Kardamom. Natürlich darf das Omelett klassisch nicht fehlen, das auch als Grün mit Estragon und Blattspinat angeboten wird. Für die orientalisch Besaiteten wird auch Schakschuka serviert, das, zugegeben mit einem Löffel Honig verfeinert, das Morgenland mit Scherherazades Geschichten vor meinem geistigen Auge grüßen lässt. Immer sind die kleinen Speisen am Tresen der Tageszeit angepasst. Sandwich mit Pastrami oder Sandwich mit Pulled Pork zu Mittag und abends Lachs-Rilettes oder Makrele in Weißwein, um Beispiele zu nennen.

Das zweite Kapitel widmet sich dem Duft der Meere. Muscheln, Austern, Taschenkrebse und Hummer, allerlei Krusten- und Schalentiere werden hier serviert. Nicht ohne aufzuklären, wo Frankreichs Austerngebiete liegen, vor allem, wo welche Austern gezüchtet werden. Das wird auf einer Karte dargestellt. Und weil Frankreich das Paradies für Austernliebhaber ist, wird noch ein wenig mehr verraten. Etwa, dass Austern traditionell zum weihnachtlichen Festmenü gehören, dass man für ungeschickte Messerstecher einen Verbandskasten bereit halten sollte, aber vor allem, dass Kenner dieser Schließmuskelspezialität sie nur im Winter essen, da Austern im Sommer Samenzellen mit einer unangenehmen Konsistenz produzieren. Was allerdings eine Frage ausgeprägten Geschmackssinns ist, eine Fähigkeit, die nicht jeder Gaumen beherrscht. Der Autor spült noch weitere Details der Auster an die Meeresoberfläche: Zunächst die gängigen Größen der gewölbten Felsen- und flachen europäischen Austern sowie eine anatomische Zeichnung, die den Aufbau dieses urzeitlichen Meerestieres wiedergibt. Und was trinkt man zu Austern? Einen Sylvaner aus dem Elsass oder einen leichten hellen Wein aus dem Department Nièvre, einen Pouilly-sur-Loire mit Noten von Zitrusfrüchten, Pfirsich und grünem Apfel. Ja, Reynaud stellt 100 Weine als Begleiter zu den verschiedenen Rezepten vor. Eine schlüssige und sinnliche Kombination. Woher die vorgestellten Weine stammen, erfährt man mit einem Blick auf die Weinkarte, auch, dass ostfranzösische, entlang des Alpenbogens, häufiger entkorkt werden, was allerdings mit den persönlichen Vorlieben des Autors zu tun haben dürfte. Für Liebhaber französischer Weine steckt in diesem Buch also auch eine kleine Schatzkarte.

Aber jetzt kommen wir zu den Vorspeisen, die ein Sammelsurium von Terrinen, Suppen, Eierspeisen sowie gemüsigen und tierischen Entrées sind. Zu den Eiern liefert Stéphane eine Art Übersichtsblatt, um darauf hinzuweisen, dass man von der Eierkategorie 2 und 3, also Eiern aus Bodenhaltung und Legebatterien, die Finger lassen sollte. Dann gibt er noch zwei Weinempfehlungen, die zu Eierspeisen passen, und stellt knappest vier Arten Eier zuzubereiten vor. Das ist etwas schwach, angesichts der Tatsache, dass in der französischen Küche schätzungsweise 685 Arten der Eierzubereitung kursieren, laut Elisabeth David. Für eine besondere Eikonsistenz gibt es im Französischen den Begriff mollet, für den keine wirklich adäquate deutsche Bezeichnung existiert, und das gerne mit wachsweich umschrieben wird, wie auch hier. Stéphane verharrt dann in  kochtechnischen Beschreibungen, gibt die Garzeit mit 5 Minuten 45 Sekunden an, ohne Berücksichtigung der Eigröße und des Wichtigsten, welche Konsistenz ein mollet-Ei haben soll. Nämlich zwischen hart und weich, das heißt, das Eiklar ist bereits fest, der Dotter gerade noch fließend. Das ist generell eine kleine Schwäche von Bistro, Bistro!, dass  kleine und wichtige Details außen vor bleiben, auch manches oberflächlich. Noch Beispiele gefällig? Schweinsfüße mit gribiche ist eine beliebte Vorspeise für mehrere Personen. Die Stelzen, wie die Österreicher sagen, werden mit der Sauce gribiche, einer Vinaigrette mit Ei serviert. Allerdings wird meines Wissens klassisch ein hartgekochtes Ei mit der Sauce verrührt und nicht wie bei Stéphane ein frisches Eigelb. 

Unter den Tagesgerichten fand ich Entenconfit mit Knoblauch. Dafür werden Entenkeulen verwendet die bereits konfiert (au confit) sind, ohne dass näher erklärt wird, was das ist. Eben, eine alte Konservierungsmethode aus Südfrankreich, in welcher Entenfleisch im eigenen Fett eingelegt ist. Dabei stellt das Entenfett großartige Dinge an, es transportiert die Wärme und macht die Keulen schön saftig und nicht fettig.

In der Salatbar wird Kartoffelsalat angeboten. Dafür werden neue Kartoffeln, allerdings ohne genauere Sortenbezeichnung verarbeitet. Aber für einen guten Kartoffelsalat braucht es nun mal die richtige Sorte. In einem Nachspann wird auf zwei neue dünnschalige, erlesene Kartoffelsorten hingewiesen, die allerdings im Übersichtsblatt, wo Sorten aufgelistet sind für verschiedene Zwecke, wiederum nicht bei der Kategorie Salatkartoffeln aufscheinen. Auf diesem Kartoffel-Merkblatt sind zig Sorten dem Verwendungszweck zugeordnet und vier herausragende abgebildet und mit Kenndaten versehen. Aber ein Manko ist die fehlende Beschreibung vom Geschmack der Kartoffeln und auch, warum ausgerechnet die Roseval für das Gratin geeignet ist oder die Agria für Folienkartoffeln. Zum Kartoffelsalat ist noch anzumerken, dass die Kartoffelsorte ‚festkochend‘ oder ‚speckig‘ entscheidend ist. Es gibt auch Kartoffelsalat-Fans die ‚mehlige‘ Sorten bevorzugen, daher gilt: ausprobieren!

Zugegeben, angesichts der Datenfülle in diesem Kochbuch sind diese Erklärungslücken marginal und die Bemühung Stéphanes, zu den Rezepten, französische Weine und ausgewählte regionale Lebensmittel vorzustellen, mehr als eine gute Idee. So fließen im Kochbuch immer wieder Basisbeschreibungen, überwiegend von Produkten ein. Also über Würste, die Zutaten von Potaufeu, über Fische, die Hochrippe, das Bier und einige Seiten über Käse, das kulinarische Nationalheiligtum Frankreichs. Und diesen gegenübergestellt immer eine entsprechende Weinempfehlung.

Faszinierend an Reynauds Bistroküche ist auch, dass er alle kulinarischen Sparten bedient, wie die Zubereitung weniger begehrter Gerichte etwa geschmorter Ochsenschwanz, Kalbskopf mit Ravigot, Nieren mit Kastanien oder Froschschenkel , wie sie in der ostfranzösischen Region Dombes zubereitet werden.

Die Fleischküche wird zweimal bedient: Im deftigen Kapitel Tagesküche und dann Feines vom Fleischer und gemeint ist damit der Sonntagsbraten von der Hochrippe mit 4 Saucen bis zur Lammkeule am Knochen mit einer Garzeit von mindestens 2 Stunden. Das Fleisch muss sich leicht vom Knochen lösen, dann ist es perfekt.

Frei nach dem Motto: Das Bistro ist ein Leuchtturm des Durstigen und Hungrigen, decken die Rezepte alle potenziellen Gäste-Generationen ab. Da sind Gerichte mit Pommes Frites oder Burger und andere brotgedeckelte Gerichte für die Kleinen und mit Käse & Überbackenes für die Großen. Wer das nicht will kann ja einen Lyoner Salat mit einem süffigen Rotwein bestellen. Vielleicht einen tiefrubinroten Coteaux du Lyonnais. Ich habe das Rezept des Salade Nicoise ausprobiert und dazu ein Les Blanches, ein schäumendes Helles mit leichten Zitronenaromen. Das hat gut gepasst und alle waren zufrieden. Biere werden im Bistro meist mit einer Zapfanlage ausgeschenkt. Das hat Tradition und reicht zurück ins 18. Jahhundert, weiß Stéphane wie auch, welche Biere so ausgeschenkt werden.

Das Käse-Kapitel ist eine Art Bilder-Lexikon, das erahnen lässt, was für ein Genuss in den Laiben steckt. Ob groß oder klein, rund oder eckig, verschrumpelt oder glatt, hart oder weich, weiß bis schwarz schillernd, die duftenden Produkte aus Kuh-, Schaf- oder Ziegenmilch zusammen mit einem knusprigen Brot sind ein würdiges Ende einer Mahlzeit. Manche mögen Süßes zum Ausklang. Auch dafür liefert Stéphane Rezepturen wie den mit viel Sahne angereicherten Milchreis, inklusive Karamelsoße oder Mandelkrokant. Ich habe den Birnenkuchen, der mit wenig Aufwand an Zeit und Zutaten schnell ins Rohr geschoben werden kann, gebacken. Geschmeckt hat er ausgezeichnet. Die Angebote zum süßen Abschluss sind zum Löffeln, wie Crème brulée und andere Cremetöpfchen, mit Gabeln zu speisende Tartes und Kuchen oder zum Schlürfen, ob Kaffee oder Likörweine. 

Bistro, Bistro! tendiert zu einem schön aufgemachten Kompendium mit überwiegend einfachen Rezepturen aus der Bistroküche. An Gerichten ist alles vertreten, was die gut-bürgerliche französische Küche zu bieten hat. Von den Innereien bis zu den Quiches, den Flammkuchen und Clafoutis mit Kirschen. Hier kommen alle, die Frankreichs Küche lieben, auf ihre Kosten. 260 Rezepte, überwiegend sparsam an Zutaten. Die Gerichte spiegeln die angenehme Bistro-Atmosphäre wider, vor allem dann auch, wenn Stéphanes Mitarbeiter sie präsentieren. So einfach die Speisen auch sein mögen, es sind aufgetischte Genussmomente, zu welchem Anlass auch immer, ob in trauter Zweisamkeit oder in größerer Gesellschaft. Eine Vorstellung, wie diese Genüsse aussehen, liefert Marie-Pierre Morel mit seinen Fotos. Bistro, Bistro! von Stéphane Reynaud verheißt Schlemmen wie Gott in Frankreich.